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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Ihre Herkunft liegt. Sie wollen sagen: ich, die Tochter vielleicht fremder Menschen, die gar nicht das Recht hat, sich die Erbin von Arholt zu nennen, darf die Werbung des Erben von Mureck nicht anhören – das wollen Sie sagen! Ich begreife Sie völlig. Aber ich, ich sage Ihnen, daß ich nicht um die Erbin, nicht um die Enkelin der Tholenstein, daß ich um Sie werbe, und um Sie werben, nach Ihrer Hand ringen würde mit allen Kräften, die Gott mir gegeben hat, auch wenn Sie eine Bettlerin wären – und ebenso, wenn Sie eine Fürstin wären und ich ein Bettler, würde es mein Schicksal sein, nach Ihnen ringen und in diesem Ringen mich verzehren, darin untergehen zu müssen . . .“

Während er dies halblaut, aber in heftigster Leidenschaft sprach, hatte Marie Tholenstein, die bisher niedergeschlagen zu Boden geblickt, langsam das Haupt erhoben und ihm zugewandt. Mit großen verwunderten Augen, aber tödlich bleich, sah sie ihn an und sagte leise:

„Was reden Sie da? Ich die Tochter fremder Menschen? die gar nicht das Recht hat . . .“

„Nun ja,“ entgegnete Raban – „daß Sie das wissen oder annehmen, denn es ist ja so ungewiß – daß Wolfgang Melber oder wer sonst es Ihnen mitgetheilt hat – das allein kann doch der Grund sein, wenn Sie mir sagen, Sie dürfen nicht anhören . . .“

„Ich weiß nichts, gar nichts – die Tochter fremder Menschen, sagen Sie, sei ich – welcher Menschen? – o mein Gott, erklären Sie das!“ rief sie in unbeschreiblicher Erregung jetzt aus – „was soll Wolfgang Melber mitgetheilt haben – sagen Sie Alles, Alles!“

Raban war bei dieser plötzlichen Entdeckung, daß er vorschnell und blindlings etwas ausgesprocheu, was er nicht hätte aussprechet sollen, der kalte Schweiß auf die Stirn getreten. Auch er war erblaßt. In grenzenloser Bestürzung sah er sie wie um Vergebung flehend an – mit dem vernichtenden Gefühle, daß es zu spät sei, etwas zurückzunehmen. Er mußte jetzt auch weiter sprechen und Alles sagen. Aber nur stotternd versetzte er:

„Habe ich wirklich unentschuldbar unbedacht Dinge berührt, die Ihnen verborgen waren und weit, weit besser Ihnen verborgen geblieben wären?“

„Und die ich nun ganz und völlig unverhüllt sehen will – ich verlange es – Alles zu wissen – reden Sie!“ rief zitternd Marie aus.

„Nun wohl – ich will es Ihnen ja nicht verhehlen, kann es Ihnen nun nicht mehr verschweigen wollen. Ich besitze einen Brief meines Vaters, der mir ausführlich mittheilt, was ich eben ausgesprocheu habe. Es ist, um es möglichst kurz zu machen, das Folgende . . .“

„Sie brauchen mir nicht zu sagen, daß meine Mutter einen Schauspieler Melber heirathete, daß ich in Ungarn geboren bin, daß ich nach der Mutter Tod von meinem Vater der Großmutter übergeben bin – ich weiß das. Mein Vater ist todt, aber sein Bruder, der Graveur ist, lebt hier in der Stadt; er hat mich aufgesucht, mich in Verbindung mit seinem Sohne Wolfgang, meinem Vetter, gebracht – aber nun reden Sie!“

Raban redete und gab kurz den Inhalt des Briefes seines Vaters an.

„Welche Enthüllung!“ sagte, als er geendet, Marie, indem sie wie in tiefem Verzagen ihre Hände im Schooße faltete. „Dies Alles ist schrecklich. Ganz schrecklich. Meine arme Großmutter! Und ich – ich Aermste! Ich Unglückliche!“

Sie brach in Schluchzen aus - ein Strom von Thränen netzte ihre Wangen.

„Ich fühle auf’s Tiefste und mit zerrissenem Herzen das nach, was Sie empfinden müssen, Marie,“ hob nach einer Pause Raban wieder an – „und habe noch den Schmerz obendrein, daß ich es sein mußte, von dem Ihnen etwas so Schreckliches, Vernichtendes kam . . .“

„Haben Sie den Brief Ihres Vaters noch?“ sagte sie.

„Ich habe ihn noch.“

„Ich will - ich möchte ihn lesen.“

„Wenn Sie es wünschen - Sie können ihn lesen.“

„So gehen Sie, bringen Sie ihn mir. Doch nein – ich sehe Anna dort auf uns harrend auf- und abgehen. Nehmen Sie Anna mit sich in Ihre Wohnung und geben Sie ihr den Brief eingesiegelt. Sie wird ihn mir in meine Wohnung bringen; ich gehe heim, da ja unsere Wanderung für heute mir unmöglich geworden . . .“

Sie erhob sich.

„Darf ich später zu Ihnen kommen – den Brief zurückholen?“ sagte Raban tonlos, aber mit flehender Stimme.

„Kommen Sie immerhin, heute am Abende, um die gewöhnliche Stunde – ich werde dann mich gefaßt und mich ja besonnen haben, was ich nun thun, nun beschließen muß “

Sie erhob sich von der Bank, welche, von Gebüschen umhegt, bisher ihre Unterredung ungestört von den Vorüberwandelnden erhalten hatte, und eilte mit flüchtigen Schritten, ohne Abschiedsgruß, hastig davon –

Mit der blutenden Wunde im Herzen, sagte sich in seiner Verzweiflung Raban – mit der Wunde, die er ihr geschlagen!

Er ging mit nicht weniger blutendem Herzen, um Anna herbeizuwinken und durch diese ohne Verzug den Wunsch ihrer armen Gebieterin erfüllen zu lassen.

Als es geschehen war, als er daheim in seinem Zimmer Anna in einem versiegelten Couverte den Brief für Marie Tholenstein übergeben hatte, sank Raban in seinen Sessel, sich so zerschmettert und hülflos fühlend, wie er nicht geglaubt, daß ein Mann sich fühlen könne; so kraftlos und gebrochen, wie ein kranker Mensch.

Er hatte Mühe, seine Gedanken zu ordnen. Sie wollten nicht weichen von der einen Vorstellung, von dem, was Marie Tholenstein jetzt empfinden müsse bei diesem Schlage, der ihr ganzes Leben wie um und um kehrte, der die theuersten Bande ihres Herzens zerriß und viel schlimmer war, als der Richterspruch einer ewigen Verbannung – es war eine Verbannung von allem Dem, was sie je geliebt, was sie als das Ihre betrachtet, was zu ihrem Leben gehörte.

Und daß er, Raban, in seiner blinden Leidenschaft das Schreckliche über sie gebracht! Und daß er nun zu seiner Strafe dasitze, ebenso unglücklich, ebenso zerschmettert durch den völlig unerwarteten Erfolg, den seine Werbung gehabt! Durch das unerklärliche Wort, welches sie ihm gesagt und wieder gesagt: „ich kann, ich darf Ihre Sprache nicht anhören – es ist ja ganz unmöglich“ . . . durch diese nun wieder ganz räthselhafte Abwehr seines offenen ehrlichen Werbens.

Weshalb in aller Welt hatte sie ihn nicht anhören dürfen, wenn es nicht so zu erklären war, wie er es, nur mit unseliger Voreiligkeit, sich erklärt hatte? War denn ein anderer Grund auch nur irgend denkbar? War sie nicht frei mehr? Gehörte sie einem Andern? Gehörte sie nun doch diesem Wolfgang Melber? Es war zum Verzweifeln, sich solche Fragen vorlegen zu müssen, ohne den geringsten Anhalt zu einer Antwort finden zu können; ohne einen andern Trost als den: und wenn ich es bin, der sie jetzt so unglücklich gemacht, so that ich es doch nur, um ihr zu sagen, daß ihr Unglück keines sei, daß ich nicht um eine Erbin werbe, daß Alles ihr ersetzt werden solle, was sie umgeben und besessen, und meine ganze Seele, meine Treue, mein ganzes Ich dazu!

Langsam und träge schlichen ihm die ferneren Stunden des Tages dahin. Als sie endlich vergangen, als die Dämmerung sich nahte, bereitete er sich, zu gehen, um sich, nach der Erlaubniß, welche sie ihm ertheilt, zu ihr zu begeben und, wenn keine tröstenden, doch wenigstens einige aufklärende Worte von ihr zu vernehmen.

Als er eben im Begriffe war, sein Zimmer zu verlassen, klopfte es an seine Thür, und Anna trat herein. Sie übergab Raban ein Billet ihrer Herrin, welches die wenigen Zeilen enthielt:

„Bitte, lassen Sie mir noch eine Weile den Brief Ihres Vaters und kommen Sie nicht – ich fühle mich zu krank, zu schwach, um Jemand zu sehen – zu schwach auch noch, um nun mit Wolfgang zu sprechen, ihm Alles zu sagen und ihm alle meine Rechte abzutreten, wie ich fest entschlossen sein muß. Ist das geschehen, so werde ich ruhiger sein und dann Ihnen sagen

lassen, wann es mich freuen wird, Sie wieder zu sehen.

Marie.“ 

Also auch die Hoffnung auf nur einige aufklärende Worte war eitel gewesen. Von Anna vernahm Raban noch, daß ihre Herrin sich den ganzen Tag über eingeschlossen gehalten, daß sie Niemand habe sehen wollen, auch den Arzt nicht, nach welchem ihre Tante gesendet. –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_539.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2022)