Verschiedene: Die Gartenlaube (1884) | |
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die Station Brennbichl liegt, fast da, wo einst vor 30 Jahren der König von Sachsen Friedrich August II. durch einen Sturz aus dem Wagen seinen unerwarteten Tod fand. Bald darauf geht es auf einer schönen eisernen Gitterbrücke (siehe Bild) über die Oetzthaler Achen in die Station Oetzthal, Ausgangspunkt für die Oetzthaler Ferner. Aber von diesen berühmten Eiskolossen und Firnfeldern sehen wir hier nichts, denn diese liegen noch sehr weit drinnen im Thale, wohl aber finden wir ihren eiszeitlichen Moränenschutt, in den die Bahn einschneidet. Dann bemerken wir auch gleich hier, wie zierlich und harmonisch die Stationsgebäude dieser und der Arlbergstrecke gebaut sind – im wohlthuenden Gegensatze zu den nüchternen Pappdeckelbauten der ehemaligen Vorarlbergerbahn.
Nun tritt die Bahn in das sich erweiternde Innthal ein, auf herrlich grünen
Wiesen eilen wir dahin, rechts aber auf waldgekröntem Hügel leuchtet
die Wolkensteinische Veste Petersberg, links liegt Silz, der
reinliche Marktort, den Touristen bekannt durch das trauliche „Herrenstübele“
seiner Post. Thalabwärts nimmt nun die Zahl der schlanken Kirchthürme zu beiden
Seiten rasch zu; da kommt vor Allem Stams, die große Cisterzienser
Abtei, eine Behüterin der sterblichen Ueberreste der alten Grafen
von Tirol, also das tirolische St. Denis. Später zeigt sich
jenseit des Inn, am Fuße der hohen Mundi, der industrielle
Ort Telfs, und wieder weiter, theilweise in Obstbaumgärten
versteckt, liegen die ansehnlichen Dörfer Flauerling, Hatting,
Polling und Inzing. Darüber hinaus ragen die schönen
Berggestalten der Umgebung Innsbrucks empor, vor Allem zunächst
links die berühmte Martinswand, an welcher Kaiser Max, der
letzte Ritter, sich verstieg, gerade oberhalb des malerisch
unordentlich zusammengewürfelten Dorfes Zirl. Die
vierhundertjährige Gedenkfeier dieses Ereignisses
wurde hier am 20. und 21. Juli d. J. abgehalten. Bei
der Station Kematen steigen schon hauptstädtische
Ausflügler in den Zug, und vor uns auf weitem
Thalplane, überragt von den Unterinnthaler Bergen, glänzen die vielen
Kirchthürme Innsbrucks im letzten Abendsonnenstrahle. Hart
am breiten Innstrome geht es hin, dann in weitem Bogen durch
die Vorstadt Wiltau, mit Wendung nach Nord, in den Innsbrucker
Bahnhof. – Etwas nach Mittag haben wir den Bodensee in Bregenz
verlassen, und ehe die Sonne hinter dem Hocheder hinabgesunken, sind wir schon im
Herzen Tirols, nicht ohne ein lebhaftes Dankgefühl für die Mächte, welche den
Arlberg durchbrachen; denn bevor dies Werk vollendet, fuhr man 14 Stunden,
theilweise zur Nachtzeit, mehrmals umsteigend, zweimal
zollvisitirt, via Lindau-München-Kufstein, in einem Dreiviertelkreise
aus Oesterreich – nach Oesterreich. C. S.
Die südfranzosischen Cholerastätten.
Die Namen Toulon und Marseille haben für die Ohren der Zeitungsleser augenblicklich einen unheimlichen Klang; man hört sie nur in Verbindung mit Ziffern aussprechen, welche Choleratodesfälle bedeuten und täglich größer werden. Dem Fachmann, der die Geschichte der großen Volkskrankheiten und ihrer verheerenden Wanderungen durch unsern Welttheil kennt, ist der Zusammenhang zwischen jenen südfranzösischen Hafenstädten und den Epidemieen längst bekannt. Keine Seuche, die jemals das westliche Europa heimgesucht, hat Marseille und Toulon verschont, und für die Cholera und Pest war speciell Toulon wiederholt die Einbruchspforte, durch welche sie, aus dem fernen Osten heranziehend, in die civilisirtesten Länder Europas drangen. Diese Vorliebe der Epidemieen für Frankreichs Mittelmeerhäfen ist natürlich kein Zufall; sie hat ihren Grund in Verhältnissen, welche schon eine flüchtige Wanderung durch diese Städte erkennen läßt.
Von den hohen Bergen im Norden der Stadt, etwa dem Faron oder Coudon, gesehen, stellt sich Toulon malerisch genug dar. Eine dicht zusammengedrängte Masse meist alter, hochgiebeliger Häuser ist von einem Gewirre enger, abenteuerlich geschlängelter Gäßchen durchflochten; in die gleichförmigen Schatten der für ihre Einwohnerzahl (78,000) verhältnißmäßig wenig umfänglichen Stadt trägt nur ein einziger großer Platz, der „Neue Paradeplatz“, einen sonnigen Fleck, und nur drei oder vier moderne breite Straßen, der Boulevard de Strasbourg, die beiden „Avenuen“ des Bahnhofs u. s. w., durchschneiden dieselben gradlinig und zerlegen sie in unregelmäßige Theile. Um die Stadt ziehen sich eine alte Ringmauer und ein neuerer, etwas ernsthafterer Befestigungsgürtel, den einige Forts verstärken, welche die fast bis an’s Meer tretenden Vorberge krönen. Vor der Stadt blitzt unter den Sonnenstrahlen der Spiegel einer tief in’s Land schneidenden Meeresbucht auf, die sich in drei Hafenbassins gliedert und canalartige Ausläufer bis in die Mitte der Stadt sendet.
Verlassen wir unseren Uebersichtspunkt außerhalb der Stadt und betreten diese durch eines ihrer finsteren, alterthümlichen Thore, so ist es zunächst unser Geruchssinn, der von ihr starke Eindrücke empfängt. Jeder Seehafen hat seinen eigenthümlichen Duft, der den Sohn des Binnenlandes immer fremdartig, meist auch unangenehm berührt; die Luft ist mit den salzigen Ausdünstungen des Meeres geschwängert, in welche sich der stockige Geruch des Brackwassers und allerlei thierischer und pflanzlicher Abfälle mischt, welche von den Gezeiten, der Ebbe und Fluth, auf den abwechselnd trocken liegenden und überschwemmten Strecken des Ufergeländes umhergewälzt werden. In Toulon aber handelt es sich noch um etwas ganz anderes; es ist nicht der „alterthümliche, fischartige Duft“ („that ancient, fishlike smell“), von dem Shakespeare spricht, welcher uns überfällt, sondern der abscheuliche Gestank, der um die Behausungen dicht siedelnder, in Schmutz brütender Menschen schweelt und für die ärmeren Viertel der meisten orientalischen Städte charakteristisch ist. Was seine Reinlichkeitsverhältnisse anbetrifft, ist Toulon aber auch eine durchaus orientalische Stadt. Es hat nur in den neuen Hauptstraßen unterirdische Abzugscanäle; die übrigen Gassen sind gar nicht canalisirt; die Abwässer laufen in offenen Gossen, welche sich an den Häusern entlang ziehen und von dort in den Hafen, dessen Fluthen unbeweglich sind, da das mittelländische Meer in dieser Bucht keine wahrnehmbaren Gezeiten hat. Die Bevölkerung, welche von den Sorgen moderner Hygieiniker völlig unberührt ist, wirft all’ das, wessen sie sich
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 544. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_544.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2024)