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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Ein Brief über die „Clavierseuche“.
Von Eduard Hanslick.

Geehrte Redaction!

Sie wünschen meine Ansicht über jene unbarmherzige moderne Stadtplage zu hören, die es heute glücklich bis zu der ehrenvollen Bezeichnung „Clavierseuche“ gebracht hat. Um Sie nicht etwa in Ihren Erwartungen zu täuschen, erkläre ich vor Allem feierlichst, daß ich dieser Epidemie gegenüber nur Patient bin und nicht Arzt; höchstens ein Doctorand jener Classe, welche, unfehlbar im Erkennen der Krankheit, doch kein Mittel weiß, sie zu heilen. Ja noch mehr: ich halte die herrschende Seuche für unheilbar und glaube, daß wir nur mittelbar, auf weiten ästhetischen und pädagogischen Umwegen dahin gelangen können, ihren verheerenden Fortgang allmählich einzudämmen.

Die Qualen, die wir täglich durch nachbarlich klimpernde Dilettanten oder exercirende Schüler erdulden, sind in allen Farben oft genug geschildert. Ich glaube allen Ernstes, daß unter den hunderterlei Geräuschen und Mißklängen, welche tagüber das Ohr des Großstädters zermartern und vorzeitig abstumpfen, diese musikalische Folter die aufreibendste ist. In irgend eine wichtige Arbeit oder ernste Lectüre vertieft, der Ruhe bedürftig, oder nach geistiger Sammlung ringend, müssen wir wider Willen dem entsetzlichen Clavierspiel neben uns zuhören; mit einer Art gespannter Todesangst warten wir auf den uns wohlbekannten Accord, den das liebe Fraulein jedesmal falsch greift, wir zittern vor dem Laufe, bei welchem der kleine Junge unfehlbar stocken und nun von vorn anfangen wird. In diesem psychologischen Zwang, dem verwünschten Clavierspiel mehr oder minder aufmerksam zu folgen, liegt wohl hauptsächlich die quälende Specialität gerade dieses Geräusches.

Die eben erschienenen Briefe von Berthold Auerbach enthalten hierüber noch eine andere, sehr feine Bemerkung. Auerbach klagt aus seinem Sommeraufenthalt Gernsbach, daß allerlei unruhige Nachbarschaft ihn in der Arbeit wie im Schlafe störe, und fügt bei: „Das Rauschen der Murg und auch des Sturmes (wie heute Nacht) ertrage ich leichter, als das Geräusch, von Menschen erregt. Warum? Unsere Nerven haben auch Verstand. Was wir hindern könnten, ertragen wir schwerer, als das Unabänderliche in der Natur draußen.“

Was wir hindern könnten? Ja, wenn wir das Recht und die Macht besäßen, es zu hindern! Aber darin liegt es eben, daß wir gegen den Tasten-Vampyr nebenan dieses Recht, diese Macht nicht haben, niemals haben können. Er ist, so gut wie wir, Herr im eigenen Hause, Herr am eigenen Clavier. Wann er da spielen darf, wie oft, wie stark, wie gut oder schlecht, das entzieht sich der gesetzlichen Einmischung, und die Polizeigewalt wird uns höchstens jenseit der Grenzlinie schützen können, wo das öffentliche Aergerniß, der Skandal beginnt.

Es sind mir im Moment nur zwei Arten erinnerlich von behördlichem Einschreiten gegen die Belästigung durch Clavierspiel. Die Pariser Polizei hat einzelne Beschwerden dahin entschieden, daß ohne Erlaubniß der Nachbarn nicht vor sieben Uhr früh und nach elf Uhr Nachts musicirt werden darf. Aehnliche Beschränkungen bestehen in manchen deutschen Städten, mehr noch durch Gewohnheitsrecht als gesetzlich. Dadurch ist aber blos unsere Nachtruhe geschützt, nicht die uns gleich wichtige Arbeitsruhe bei Tage. Nur „den heiligen Schlaf zu morden“, wie Macbeth so schön sagt, verwehrt das Gesetz den pianisirenden Unholden, – verwehrt es „im Princip“, denn eine wirklich strenge Handhabung würde alle Hausbälle, alle Privat-Abendconcerte u. dergl. unmöglich machen.

Eine zweite polizeiliche Fürsorge besteht, den Zeitungen zufolge, jetzt in Weimar, wo es gegen zwei Mark Strafe verboten ist, bei offenen Fenstern zu musiciren. Es ist dies eine wohlthätige Verordnung, – beschämend nur durch den Gedanken, daß eine Obrigkeit erst befehlen mußte, was das eigene Anstandsgefühl einem Jeden von selbst dictiren sollte.

Auf diesem Gebiet musikalischer Attentate darf ich mich der schmerzlichsten Erfahrungen rühmen. Es war eine angeblich „ruhige“, etwas enge Gasse, in welcher ich vor einigen Jahren das Glück hatte, ein „clavierfreies“ Haus zu bewohnen. Aber mir gegenüber stürmten aus drei Stockwerken alle bösen Geister zu den stets offenen Fenstern heraus. Während im ersten Stock mehrere musikalische Schwestern von schwachem Gehör und stets verstimmtem Clavier Beethoven, Strauß, Offenbach und Chopin bunt durch einander schüttelten, blutete über ihnen ein junges Opfer musikalischer Dressur stundenlang unter Tonleitern und Uebungen. Am frühesten begann die Sopran-Dame im dritten Stock ihr Tagewerk mit italienischen Arien aus „Lucia“ und der „Nachtwandlerin“. Es schien ihr Appetit zum Frühstück zu machen, wir Anderen verdienten keine Rücksicht und Donizetti war ja längst todt. So ging es des Morgens. Der Abend pflegte im anstoßenden Hause durch vierhändiges Abschlachten altersschwacher Ouvertüren gefeiert zu werden, und wenn gerade Vollmond war, so stöhnte überdies eine Physharmonika ihren Weltschmerz in das liebliche Ensemble. Und niemals, gar niemals kam diesen kunstsinnigen Gemüthern der Gedanke, es könnten ihre musikalischen Orgien uns wehrlose Leute in der Nachbarschaft belästigen. Liegt nicht in diesem rücksichtslosen Musiciren bei offenem Fenster auch eine Barbarei, ähnlich jener der Drehorgelmänner, die sich vor unsere Wohnung postiren? Musikalisches Faustrecht – oben oder unten. Die Weimarische Polizei-Verordnung schützt wenigstens das vis-á-vis des musikalischen Ungeheuers, indem sie diesem die Fenster verschließt. Den Nachbar vermag sie nicht zu retten, welcher durch die dünnen Wände Alles und Jedes mit anhören muß.

In Oesterreich giebt es meines Wissens keinerlei gesetzliche Verordnung gegen nachbarliche Clavierinsulten, soweit diese nicht in das Gebiet des „öffentlichen Aergernisses“ überspringen. Vereinzelte Beschwerden, von denen ich erfuhr, wurden von der Behörde mit dem Bemerken abgewiesen, es bleibe dem Kläger kein anderes Mittel, als die Wohnung zu wechseln. Nun ereignete es sich, daß zur selben Zeit zufällig zwei ganz andere Beschwerden mit glücklicherem Erfolg bis vor Gericht kamen, Beschwerden, die im Zusammenhang mit unserem Thema sehr charakteristisch sind. Die Mutter einiger sittsamer Töchter führte Klage gegen einen ihr gegenüber wohnenden Schneidermeister, weil dessen Gesellen zur Sommerszeit in allerliberalstem Negligé bei offenen Fenstern arbeiteten. Der Klage wurde stattgegeben und den im Gladiatorencostüm befindlichen Schneidergesellen befohlen, ihre Fenster oder sich selbst zu verhängen. Ebenso erfolgreich verlief der zweite Fall: die Beschwerde mehrerer Miethsparteien gegen einen Seifensieder, dessen Laboratorium die Gasse verpestete; – er zog den Kürzeren und mußte das Feld räumen. Man sieht aus diesen zwei Beispielen, wie ganz anders das Auge und die Nase geschützt werden gegen verletzende Nervenreize, als das Ohr, dieser empfindlichste und wehrloseste der Sinne. Juristisch ist das freilich unanfechtbar. Eine Gesetzgebung, die es unternehmen wollte, uns vor dem Clavierspiel der Nachbarn zu schützen, müßte die Musik überhaupt verbieten. Denn im Wesen der Musik liegt es ja, daß man ihr nicht entfliehen kann, daß man sie hören muß, man wolle oder nicht, daß sie mit Einem Wort (es rührt von Kant her) eine „zudringliche Kunst“ ist.

Könnte und wollte man übrigens einige tausend Städter von den Qualen nachbarlichen Clavierspielens befreien, so müßte man eben so vielen Tausenden ihre beste, oft einzige Freude und Erholung rauben, den Fachmusikern oft geradezu ihre Existenz. Ja, das Merkwürdigste ist, daß in sehr vielen, vielleicht in den meisten Fällen, hier Kläger und Geklagter, Selbstspieler und Angeklagter in demselben Individuum zusammenfallen; denn gerade wir, die wir unter den unerbetenen nachbarlichen Klängen am empfindlichsten leiden, sind in der Regel selbst musikalisch und musicirend. Wir fangen selber an, wann der Andere aufhört, und so dreht sich die Klage in ewigem Kreise. Wie man sieht, vermag die Händ des Gesetzes hier nichts auszurichten, oder doch nur ein verschwindend Geringes. Auch wir, die Partei der Defensive, besitzen wenig schützende Mittel; dicke Wände und Geduld sind vielleicht die einzigen.

Viel mehr vermag schon die gegnerische, die offensive Partei für uns zu thun, wenn sie humane Bildung und einiges Mitgefühl

mit dem Nebenmenschen besitzt, – heißt es doch, daß Musik die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 572. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_572.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)