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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

und nicht wieder loszulassen. Das war unerhört: die „Clusia“ wurde von dem flottesten Corpsburschen respectirt. Sie hatte hoheitsvoll das Antlitz abgewendet. Ein Schüler ihres Vaters, den sie als Studenten verlassen hatte und als Privatdocenten wiedersah, rasselte bei seinem ersten Besuch als Reservelieutenant in das Haus, da er gerade einberufen war zu einer Uebungszeit. Kaum vermochte sie den Doctor Gerhard wieder zu erkennen, der sonst so würdevoll zur Universität geschritten war und jetzt in toller Hast von ihr hinwegstürmte, als er fürchtete, die Stunde des Appells zu versäumen. Und da sie ihrer intimsten, wenn auch älteren Freundin, der Stiftsdame Melanie von Seebergen, die da drüben in dem grauen ehemaligen Klostergebäude wohnte, über alle die Veränderungen ein erstauntes Wort sagte, erwiderte diese lächelnd:

„Fordern Sie nicht zu viel für sich und Ihre Welt von uns. Bedenken Sie, wir haben nun selbst einen Leonidas. Hat nicht Werder mit seinem Corps ebenso am Engpaß Wacht gehalten und sich nicht einmal aufreiben lassen?“

Selbst der grüne Eichberg war nicht derselbe geblieben. Als sie das dunkle weitgeöffnete Auge zu den leise brausenden Wipfeln erhob, da erschaute sie über dem höchsten Berggipfel den großen schwarzen eisernen Adler, der mit ausgebreiteten Flügeln und hoch nach Westen gerecktem Kopf auf der Säule stand, welche das dankbare Vaterland den gefallenen Kriegern errichtet hatte.

Wehmüthig senkte sie das Haupt. Sie hätte so gern das Große, das gethan war, bewundert; aber es trat ihr fremd, herrisch entgegen, das Leben, welches durch Jahrhunderte ungestört sich hier entfaltet hatte, zurückdrängend.

Und Niemand fühlte mit ihr; sie war stets Creme, die Einsame. Alles jauchzte der neuen Zeit zu. Sogar das Rudel barfüßiger Kinder, das, mit Stöcken bewaffnet, eben herantobte und schrie: „Jetzt kommen sie.“

Dort um die Waldecke, die einen Theil des weiten Exercirplatzes verbarg, bogen sie, die weltberühmten Ulanen mit ihren Lanzen, von denen die schwarz-weißen Fähnchen wehten. Voran der Führer; eine Pferdelänge hinter ihm der Trompeter.

Der Wind ließ Ereme’s blauen Schleier gleich einem Wimpel flattern. Sie zog ihn an sich und schritt durch die Wiesen hinab nach dem Fluß. Da schlug eine mächtige Stimme an ihr Ohr. Unwillkürlich sah sie zurück.

Der Rittmeister hatte sich hoch im Sattel erhoben. „Escadron! Zur Attake! Lanzen gefällt!“ tönte es herüber.

Der Trompeter blies ein Signal, die Ulanen setzten sich in Trab; ein neues Signal, sie gingen in Galopp über, und ein drittes anlegendes Geschmetter, das Ereme zusammenfahren ließ; jetzt sauste die Schwadron mit gefällten Lanzen im Carrière dahin, der Rittmeister, den blinkenden Säbel in der Faust, voraus. Der Boden dröhnte unter den donnernden Rosseshufen, die Luft bebte von den wilden Klängen.

Sie wandte sich an einen jungen Mann, der, den Rechen in der Hand, eine abgetragene schildlose Soldatenmütze auf dem Kopf, seine Arbeit unterbrochen hatte, um den Uebungen der Ulanen zuzuschauen. „Was ist das für eine ungestüme Weise?“

„Wir nennen es ‚Fanfaro‘,“ antwortete er.

„Was heißt das?“ erkundigte sie sich befremdet.

Die barfüßigen Jungen schrieen: „Oho, die weiß nicht, was Fanfaro ist,“ und sie fällten ihre Stöcke wie Lanzen.

„Es ist das Commando, das bei der Infanterie ‚Marsch, Marsch!‘ heißt,“ autwortete der Arbeiter, dessen stramme Haltung zeigte, daß er gedient hatte.

„Und was ist Marsch, Marsch!?“ fragte Ereme.

Die Kinder erhoben ein Hohngelächter, schwangen sich auf ihre Stöcke und ritten im Galopp auf den Exercirplatz hinab.

„Das ist das Commando zur Attake,“ erläuterte der junge Mann, mit verklärtem Gesicht den Dahinstürmenden nachschauend. „Das ist der Bartenstein! Der reitet wie der Teufel.“

Wieder ein Signal.

„Jetzt wird zum Ralliiren geblasen,“ erklärte er.

Die Officiere salutirten mit den Säbeln. Die Escadron kehrte zu ruhiger Gangart zurück.

Ereme wandte sich der Uferstelle zu, wo der Kahn lag, der hier den Uebergang vermittelte.

Der Fährmann, der aus seiner Hütte herabkam, redete sie zutraulich an. „Es hat sich viel verändert, seit ich Sie zum letzten Mal übersetzte. Damals war der Herr Vater noch dabei. Wir haben Alle Theil genommen, als die Nachricht eintraf, daß der berühmteste Professor unserer Universität gestorben war. Und noch dazu so weit von der Heimath.“

„Er würde dieselbe so wenig wieder erkennen als ich,“ erwiderte Ereme.

„Ja, wir sind groß geworden seitdem,“ sagte der junge Mann. „Wir haben das deutsche Reich aufgerichtet. Ich habe auch vor Paris gelegen und mein Weihnachtsbäumchen mit Granatsplittern behangen, statt mit Aepfeln und Nüssen.“

Sie sah ihn verwundert an. Das hätte man früher Galgenhumor genannt. Aber dieses Wort paßte nicht mehr; der Erzähler lachte mit unzweideutigem Frohmuth. Sie hatte keine Zeit, weiter darüber zu grübeln. Die Ulanen zogen heran, wohl der Brücke zu, die weiter droben in die Stadt führte, wo ihre Caserne, ein ehemaliges kurfürstliches Schloß, lag.

Und da ritt auch wieder der Officier an der Spitze, der vorhin so kühn dahin jagte, und auch wieder, wie schon ein- oder zweimal, wenn er ihr begegnet war, faßten seine Augen sie von Weitem so unverwandt und scharf, als wolle er sie an den Boden bannen.

Sie richtete sich auf. In ihren weißen Plaid mit lässigem Faltenwurf gehüllt, den Zipfel über die Schulter geschlagen, erhob sie sich auf dem hohen Uferrand gleich einem plastischen Gebilde vor dem Heranreitenden; dann wandte sie sich mit einer stolzen Bewegung, die wie die sprechende Geste einer antiken Statue erschien, ab und schritt nach dem Kahn hinunter.

Im selben Augenblick ertönte wieder die Commandostimme hinter ihr: „Escadron! Halt! – Bitte, die Herren Officiere!“ Die Officiere ritten an den Rittmeister heran. – „Meine Herren, ich danke Ihnen.“

Er warf sein Pferd herum und setzte im Hui über die Weißdornhecke des Weges, jagte über die Wiese, nahm im Flug den Graben, der sie hüben vom Wege schied, und nun ging es geradeswegs auf die Uferstelle zu, wo Ereme stand.

Eilig stieg sie in den Kahn. Der Schiffer löste ihn von seiner Kette und stieß ab.

Da sprengte der kecke Reiter ihr nach in den Fluß hinein.

Erschrocken schaute sie sich um.

Er aber sah mit einem leichten Lächeln um die schön geschwungenen Lippen, die von der Gewohnheit des Befehlens geschärft erschienen, über sie hinweg. Seine hohe, schlanke, geschmeidige Gestalt, von der Ulanka eng umschlossen, wiegte sich elastisch auf dem feurigen Goldfuchs, der schnaubend die Schaumwellen theilte. Lustig flatterte der weiße Haarbusch von der Czapka.

Die übrigen Zuschauer hatten sich offenbar nicht erschreckt. Sie schienen an absonderliche Reiterstückchen des Rittmeisters gewöhnt zu sein. Der alte Fährmann lachte nur in seinen Bart, von der Wiese aus sahen die heumachenden Archeiter vergnügt zu, die Ulanen zogen unbekümmert ihres Weges. Nur ein Lieutenant mit hübschem regelmäßigen Gesicht und glänzend schwarzem Schnurrbart hielt am Ufer und verfolgte mit unverkennbarer Aufmerksamkeit den Verlauf der Scene.

Das Wasser stieg höher, dem Pferd bis an den Leib; der Rittmeister ritt weiter, immer mit dem gleichen überlegenen Lächeln auf den von einem braunen Bart umkräuselten Lippen. Es schien zu sagen: „Du sollst Deinen Willen nicht durchsetzen, was Du auch thun magst.“

Einmal fiel das Pferd mit den Vorderhufen so tief hinein, daß es den Kopf hochrecken mußte, um über Wasser zu bleiben. Der Ausdruck in dem kühn geschnittenen gebräunten Antlitz des Reiters blieb aber so übermüthig wie vorher; er hob die Zügel, und vorwärts ging’s.

Dann trieb die Strömung den Kahn, daß er Seite an Seite mit dem kecken Reiter war und der Schiffer mit sichtlicher Sorge steuerte. Aber jetzt blickte Ereme nicht mehr nach ihrem ritterlichen Begleiter hin. In ihren unbewegten Zügen, auf den herbe sich senkenden Mundwinkeln stand geschrieben: „Wenn Dich Dein Schicksal erreicht, was kümmert’s mich?“

Endlich waren sie am Ufer angelangt.

Ereme gab dem Fährmann seinen Lohn. „Hier ist der Obolus,“ sprach sie. „Eine Fahrt in Charon’s Nachen mag nicht viel widerwärtiger sein, als diese es war.“

Der biedere Schiffer wunderte sich nicht über ihre Worte. In kleinen Universitäten ist auch der Geringste an hohe Reden gewöhnt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 603. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_603.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2022)