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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

als so getrübte angesehen, wie es nach diesem ironischen Lobe derselben scheinen könne. Wir wissen, wie der ehrliche Hans Sachs sich gern über einzelne Schwächen seiner Zeit lustig machte, gerade weil er das sichere Bewußtsein hatte, daß es im Ganzen doch eine gute, tüchtige Zeit sei. Aber gänzlich aus der Luft gegriffen kann jene Anzweifelung gewisser Verhältnisse im Handwerk, in der Familie, in der Rechtspflege etc. doch auch nicht sein. Und so werden wir vielleicht das Richtige treffen, wenn wir aus dieser schalkhaften Erzählung des ehrlichen Hans Sachs die Moral entnehmen: es gab in jener Zeit, wie in jeder, neben Gutem auch minder Gutes, neben vielen löblichen Erscheinungen auch einzelne minder erfreuliche. Da dem aber so ist, so soll man auch unsere Zeit nicht darum, weil in ihr nicht Alles vollkommen ist, sogleich mit Stumpf und Stiel verdammen!

Uebrigens zeigt doch auch die nüchterne historische Forschung, daß in der That selbst in jener so gerühmten Zeit keineswegs Alles Gold war, was so scheint. Die Chroniken des 14., 15., 16. Jahrhunderts sind voll von Beispielen der gräulichsten Verbrechen, die häufigen geistlichen Vermahnungsschreiben aus jenen Zeiten führen bittere Klage über weit verbreitete Sittenverderbniß aller Art. Wir besitzen eine neuere Zusammenstellung urkundlichen Materials zur Sittengeschichte Deutschlands vom 13. bis in’s 16. Jahrhundert unter dem etwas sonderbaren Titel: „Das Kloster, weltlich und geistlich, meist aus der älteren deutschen Volksliteratur“, herausgegeben von Scheible. Das Werk ist, wie ein Kloster, in „Zellen“ eingetheilt. Die Zellen 21 bis 24 behandeln speciell unser Thema, die „gute alte Zeit“, und zwar mit dem Beisatz: „geschildert in historischen Beiträgen zur nähern Kenntniß der Sitten, Gebräuche, der Denkart vornehmlich des Mittelstandes in den genannten drei Jahrhunderten, nach alten Druck- und Handschriften“. Man hat es hier also mit lauter ganz bestimmten, thatsächlichen, deutlichen Beweisen, nicht etwa (wie so oft bei den Lobrednern der Vergangenheit) mit bloß allgemeinen, unbewiesenen Behauptungen zu thun. Der Herausgeber faßt schließlich seine culturhistorischen Ermittelungen in folgender Betrachtung zusammen:

„Man machte sich sonst hohe Begriffe von der Unschuld und Sittsamkeit der guten Voreltern – wohl nur auf das Wort der Eltern und anderer bejahrter Leute aus einer früheren Generation – ohne sich die Mühe zu nehmen, diese schönen Gemälde eines goldenen Zeitalters näher zu beleuchten. Der neuesten Zeit war es vorbehalten, die Sitten der Vorzeit mit ihren wahren Farben zu schildern. Bei aller Vorliebe für die guten, alten, kräftigen Zeiten können wir uns doch nicht verhehlen, daß unsere Altvordern in Hinsicht der Sittsamkeit, Mäßigkeit, Sparsamkeit und in anderen häuslichen und geselligen Tugenden vor unserer so verschrieenen neueren Zeit keinen großen Vorsprung hatten, wofern sie uns nicht ähnlich waren, ja in einigen Punkten vielleicht hinter uns zurückstanden.“

Zu ganz dem gleichen Resultate gelangt ein andrer namhafter Culturforscher der deutschen Vorzeit, der berühmte Verfasser der „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“, Gustav Freytag. In der Vorrede zu diesem Werke spricht er sich so aus:

„Vergebens sucht der Deutsche die gute alte Zeit! Auch ein frommer Eiferer, der Hegel und Humboldt als die großen Atheisten verdammt, auch der conservative Grundherr, der für die Privilegien seines Standes mit den Mächten der Gegenwart hadert, auch sie würden, in eines der früheren Jahrhunderte zurückversetzt, zuerst ein maßloses Staunen, zuletzt einen Schauder vor ihrer Umgebung empfinden. Was sie von jener Zeit begehren, das würde sie elend machen, und was sie jetzt gedankenlos oder grollend von unserer Bildung empfangen, es würde ihnen so sehr fehlen, daß sie über den Mangel verzweifelten.“

Wenn man, um die Verderbtheit der heutigen Zeit zu kennzeichnen, sich auf die Verbrecherstatistik bezieht, so müssen wir daran erinnern, daß sowohl die Entdeckung als die Veröffentlichung von Verbrechen heutzutage mit ganz anderen Mitteln und darum nach ganz anderen Maßstäben vor sich geht, als vordem. Man kann darauf rechnen, daß namentlich von jenen gräulichen Verbrechen, die jedesmal unser ganzes menschliches Gefühl erzittern machen, uns nicht leicht eines von der Tagespresse erspart wird, während in früherer Zeit sicherlich eine Menge solcher theils unentdeckt blieb, theils nur in engstem Kreise bekannt wurde.

Ganz ähnlich, wie mit der Sittlichkeitsstatistik, verhält es sich mit einer andern Erscheinung, die auch oft irrthümlicher Weise zum Nachtheil der Gegenwart ausgelegt wird. Das ist das massenhafte Material von Klagen und Beschwerden über allerhand sociale Mißstände und schlechte Behandlung der Arbeiter durch die Arbeitgeber, unbillige Herabdrückung der Löhne, Verkümmerung des Arbeitsverdienstes, materielle Noth und daher entstehendes Siechthum ganzer Bevölkerungen u. dergl. m. Wer solche Klagen in unseren Tagesblättern fort und fort liest oder in unseren Ständesälen hört und damit die Organe der Presse oder Denkwürdigkeiten und andere Schriften aus einer früheren Zeit vergleicht, wo er ähnliche Klagen nicht findet, der könnte leicht auf die Vermuthung kommen: dieser ganze sociale Nothstand sei etwas Neues, unserer Wirthschaftsperiode Eigenthümliches, sei ein Symptom und eine Frucht des Abfalls von der „guten alten Zeit“. Sehr richtig hat aber schon der berühmte englische Geschichtschreiber Macaulay darauf hingewiesen, daß nicht die Thatsache jener socialen Uebelstände neu sei, sondern nur die Kenntnißnahme davon; daß derartige Zustände auch früher bestanden, daß aber damals in der Regel Niemand davon Notiz genommen habe.

In der That, wenn jetzt über die Noth der arbeitenden Classen mehr gesprochen und geschrieben wird (und, setzen wir hinzu, auch mehr zu deren Linderung geschieht), als früher, so bekundet dies nicht ein Wachsthum der Noth, vielmehr nur ein Wachsthum der Humanität, welche sich dieser Noth annimmt. Auch ist unser heutiges Arbeiterproletariat, welches, wenn schon mühsam und kümmerlich, doch mit eigener Kraft sich durch’s Leben schlägt, jedenfalls weniger schlimm, als jenes vagabundirende, bettelnde, auch wohl stehlende und raubende Proletariat, welches in früheren Zeiten zu Hunderten die Landstraßen unsicher machte, Dörfer und Städte brandschatzte.

Noch in einem speciellen Punkte der Lebensführung pflegen die Lobredner der Vergangenheit gegen unsere heutige Zeit Klagen zu erheben, im Punkte des Luxus und der Verschwendung. Aber auch diese klagen sind nicht neu, und sie waren früher wohl mehr gerechtfertigt, als heute. Die „Luxusordnungen“ aller Art, welche vordem von Obrigkeitswegen erlassen wurden, um der übertriebenen Ueppigkeit und Verschwendung im Essen und Trinken, in Kleidung und Putz zu steuern, reichen zurück bis in’s 15. Jahrhundert; sie ziehen sich dann wieder (nach kurzer Unterbrechung) von der Mitte des 16. bis an’s Ende des 17. Jahrhunderts; sie wiederholen sich immer öfter, ein Beweis, wie wenig sie halfen, und sie hören nur darum zuletzt auf, weil man sich überzeugt hat, daß damit doch nichts ausgerichtet werde. Selbst das half nichts, als der Rath in Leipzig 1699 erst die Mägde, die gegen das Verbot Spitzen, Tressen, Schleppen etc. trugen, auf’s Rathhaus citirte und ihnen durch den Rathsvogt „den Plunder abtrennen“ ließ, dann die gleiche Operation an den Handwerkerfrauen und zuletzt sogar an den vornehmen Kaufmannsfrauen vornahm.

Das Jahresbudget eines Hamburger Kaufmanns aus dem Anfange des vorigen Jahrhunderts berechnete die moralische Wochenschrift „Der Patriot“ zu mehr als 10,000 Thalern (30,000 Mark) für’s Jahr, nach damaligem Geldwerthe eine enorme Summe. Darin kommen Posten vor wie: 900 Thaler für ein neues Bett; 600 Thaler eine goldene Repetiruhr für die Frau; 150 Thaler Spielgeld für dieselbe; eine Puppe aus Holland für die Tochter im Preise von 100 Thalern; ein Gastgebot von 30 Personen zu 240 Thalern; dem Sohne (der noch in die Schule geht!) „zu seinem Plaisir, wenn er in Gesellschaft geht und l’Hombre spielt“, 40 Thaler, demselben eine Uhr 36 Thaler – dagegen dem Beichtvater zu Neujahr statt der sonst üblichen 4 Ducaten „wegen der schlechten Zeit“ nur 4 Thaler. – Im Frankfurter Intelligenzblatt“ von 1723 ward ein Luxusbett zu 750 Thalern ausgeboten. Gewöhnliche Bürger in einer kleinen Stadt trugen Sammtaufschläge und breite seidene Borten auf den Mänteln, Bürgersfrauen mehrfache goldene Ketten, Handschuhe, mit Gold und Perlen gestickt. Bei einer adligen Hochzeit wurden 80 Eimer Wein ausgetrunken. Gastgebote zu 280 Personen bei großen Hochzeiten waren polizeilich erlaubt. Hochzeiten, Kindtaufen, ja auch Leichenfeiern wurden durch viele Tage hindurch mit Essen und Trinken begangen. Ein Herr v. Schömberg in der Pfalz hinterließ 22 Prachtanzüge. Ein Verein gegen Luxus in Braunschweig, 1618, aus Adligen bestehend, machte aus: Keiner solle dem Andern bei Zusammenkünften mehr als acht Essen vorsetzen; Keiner solle ein Kleid tragen, das mehr als 200 Thaler koste.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 642. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_642.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2022)