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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

und sei es selbst durch Edelsinn und Entsagung! Würde aber der junge Brausekopf, der mit heißen Lippen nach dem Becher des Genusses lechzte, jetzt schon im Stande sein, ihn zu verstehen? Würde er ihm folgen? Er wußte selbst, was Entsagung heißt. Würde aber Gretchen dem Herrn, dem Gebieter ihres Vaters widerstehen? Er wagte für Beide nicht gut zu sagen, denn er wußte, so hoch er auch den Freund hielt, daß sich des Herzogs Lust zu Abenteuern in letzter Zeit immer mehr gesteigert hatte. Konnte er nicht offen sprechen: Man hat Dir jenes Weib als Lockspeise vorgehalten, nun erkenne doch den Betrug! so blieben alle seine Warnungen vor dem Wundermanne wirkungslos und der Herzog in den Fäden, die ihn gefangen hielten. Daneben aber quälte ihn die Frage: hatte Gretchen wirklich die Venus gespielt, und wenn hier nicht eine Aehnlichkeit, eine Einbildung trog, wie war es möglich gewesen, sie dazu zu bestimmen?

Er mußte diesem Geheimnisse auf den Grund kommen - sobald als möglich.

Während nun der Herzog an einer quälenden Unruhe und Verstimmung litt und das Verhältniß der beiden Freunde getrübt blieb, bemühte sich Goethe, durch allerlei äußere Lustbarkeiten den Freund von seinen Gedanken an das erlebte Abenteuer abzuziehen und ihm die Zeit, von der er Heilung und Milderung der Spannung hoffte, sanft und heiter zu verkürzen.

Es ward immer abwechselnde Unterhaltung geplant, man sah sich täglich, und Karl August war noch viel zu jung und lebensfrisch, um durch jenes Abenteuer wirklich aller andern überdrüssig zu sein, vergaß gern auf Stunden, was ihn beunruhigte, und schloß sich von keiner Ergötzlichkeit aus. So erreichte denn auch Goethe zum Theil seinen angedeutete Zweck.

Im Juni hatte Goethe den großen Schmerz erlitten, seine einzige geliebte Schwester durch den Tod zu verlieren; aber er fand ein treues Herz, in welches er sein Weh ausschütten konnte, ja fast Ersatz für seinen Verlust in der geliebten Freundin. Manche ernste Unterhaltung führte die beiden eng verbundenen Seelen noch näher zusammen. Die tiefe düstere Welt des Schmerzes, das Leid in vielen Formen, Entsagung und strenge Selbstzucht waren die eigentlichsten Erfahrungsgebiete Charlottens, welche, mit einer zarten Gesundheit, an der Seite eines kühlen Gatten, bei dem Verlust ihrer Kinder und manchem andern Leid, auf sich selbst angewiesen, in sich die Kraft zum muthigen Ertragen gefunden hatte. Aber nicht allein sein trauriges Erlebniß theilte sie mit dem Freunde, auch das Geheimniß und die Abenteuer des Herzogs erfuhr sie, sowie Goethes abweichende Ansicht und das daraus entsprungene Mißbehagen zwischen den Unzertrennlichem

In dem behaglichen Stübchen Thusnelda’s im Witthumspalais versammelte sich schon seit längerer Zeit an jedem Sonnabend Morgen ein intimer Kreis, der eigentliche Kern jener Lustigen von Weimar. Regelmäßige Theilnehmer jener Matinées, welche sogar oft ein Blatt mit scherzhaften Berichten und Versen verfaßten, waren Goethe, Wieland, Knebel und Einsiedel.

Heute waren diese Vier mit dem kleinen Hoffräulein allein.

„Nun, Bruder Merlin, Du Zauberer,“ sagte Wieland zu dem geliebten jungen Freunde, „schwinge Deinen Stab, schütte Dein Füllhorn aus und sag an, was es zunächst geben soll!“

„Wir müssen,“ sprach Goethe, der jetzt wieder Herr aller Verstimmungen war, „eine Aufführung schaffen, die uns Rembrandt’sche Bilder liefert; die Frau Herzogin Amalie verlangt nach einem Beweis der außerordentlichen Wirkung des schroffen Helldunkels. Wir wollen ihr ein Abendfest in Tiefurt bereiten, mit Fackeln, brennenden Reisigbündeln und andern Feuern, das lauter Rembrandts giebt!“

Und nun entwickelte er seinen Plan, dem Alle freudig zustimmten.


24.

Ein schöner Augustabend versammelte also wieder die lustige Welt von Weimar in dem reizvollen Tiefurt, wo an den Ufern der Ilm das frischerdachte Singspiel von Goethe: „Die Fischerin“, aufgeführt werden sollte.

An einem sanft aufsteigenden Hügel der Gartenanlagen, unmittelbar am Flußufer, von wo man den Lauf der durch Wiesen sich hinschlängelnden Ilm vor sich sah, war mit Gartenbänken ein Amphitheater hergestellt, das die Gesellschaft aufnahm.

Die einzige Beleuchtung gab das mächtig lodernde Herdfeuer, über dem der Fischerin Kessel mit der Abendkost für die abwesenden Männer brodelte und an dem sie hantirte.

Die schöne Gestalt Corona’s, welche die Fischerin darstellte, nahm sich in der kleidsamen Tracht eines Fischermädchens, jetzt grell beleuchtet, dann in tiefem Schatten halb verschwindend, gar malerisch aus. Ihr Vortrag des Liedes vom Erlkönig war hinreißend in seiner dramatischen Vollendung, und ein leises Grauen, als werde nun noch viel Schauerliches kommen, überlief die Zuhörer.

Sie versteckte sich und die Männer traten auf.

Wieland gab einen recht behäbigen, gemüthlichen Vater, und Goethe war ein so feuriger Liebhaber, wie man ihn nur wünschen konnte. Sie spielten Beide ihre Rollen zur Zufriedenheit, und obgleich die Zuschauer wußten, daß Dortchen sich verborgen halte, brachte doch die Aufregung der Suchenden, das Herbeieilen der Nachbarn, das Rufen, das Auslaufen der Kähne, die Feuer an den Ufern eine lebhafte Spannung hervor.

Der folgende Chorgesang, vermischt mit dem Rauschen des Wassers, dem Flüstern der Blätter, den herüber schallenden Lauten der freien Natur, gab eine schöne Wirkung. Bald wechselnd, bald zusammen sangen die Nachbarn:

„Eilt nur geschwinde!
Lauft nach den Reusen!
Wohl blieb sie hangen,
Und zündet Schleifen,
Und brennet Fackeln
Und Feuer all!
Geschwind zu Schiffe!
Herbei die Stangen!
Sie aufzusuchen!
Sie aufzufangen!
Den Strom hinunter!
Habt Acht! Habt Acht!“

Die Freude des Wiedersehens, als Dortchen hervortrat, erleichterte Alle, und höchst befriedigt hörte man nach einigen lebhaften Scenen und Wechselgesängen den Schlußchor, in dem man sich mit der Heirath des Paares beschäftigte; der letzte Vers lautete:

„Was soll die Aussteuer sein?
Der Beifall soll die Aussteuer sein!
Kommt, wendet Euch zu ihnen,
Die unserm Spiele lächeln;
Was wir auch nur halb verdient,
Geb’ uns Eure Güte ganz!
Geb’ uns Eure Güte ganz!“

Freudiger Applaus, das erbetene Zeichen des Beifalls folgte stürmisch, und befriedigt erhob sich die Gesellschaft, um in heiterem Geplauder, in einem Spaziergange durch den jetzt schön illuminirten Park neue Freude zu suchen.

Der Zufall fügte es, daß Luise von Göchhausen in einem rosefarbenen Domino ihren kleinen Oheim, den Oberkämmerer von Göchhausen, erkannte. Da sie den alten Herrn seit einiger Zeit nicht besucht hatte und sich in ihrem Gewissen diese Vernachlässigung ihres einzigen Verwandten vorwarf, nahm sie seinen Arm und schlenderte mit ihm eine Allee hinunter.

„Wie befindet sich mein hochverehrter Onkel?“ fragte sie scheinbar mit großer Theilnahme.

„Ich hoffe bald der Sorge für meine Gesundheit gänzlich überhoben zu sein, chère nièce, entgegnete der alte Herr mit freudig bewegtem Tone.

Derartig hatte sich der stets besorgte Mann noch nie geäußert, und Luise sah ihn erstaunt aus ihrer Florbrille an.

Er trug die rosa Kapuze seines Dominos über den Kopf geschlagen, das saubere alte Gesicht sah in Heiterkeit strahlend darunter hervor, und die fahlen Augen gewannen einen lebendigen Ausdruck unter der schwarzen Halbmaske. Welch ein Glücksfall war dem alten Herrn widerfahren? Sie konnte sich nicht versagen, ihre neugierig teilnehmende Erkundigung fortzusetzen.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 647. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_647.jpg&oldid=- (Version vom 15.1.2023)