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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Abends schifften wir uns ein nach Emden, unter Gewitter und Strichregen. Von der Nacht, welche etwas unruhig gewesen sein soll, kann ich gar nichts berichten; denn ich schlief den Schlaf des Gerechten in einem guten und geräumigen Bette. Auch bin ich der Meinung, daß der „Schwan“ eine ruhige Gangart hat, welche noch ruhiger gewesen wäre, wenn er mehr Ladung gehabt hätte, oder Ballast. Nur eine Unart hatte er an sich, welche man sich aber im Interesse der Reinlichkeit gefallen lassen mußte. Jeden Morgen kurz nach fünf Uhr — wo der Mensch noch lange nicht ausgeschlafen, namentlich wenn er sich bis spät in die Nacht auf Deck dem Singen und Trinken und anderen freien Künsten gewidmet hat – begann ein Kettengerassel, das an die schönsten Ritter- und Gespenstergeschichten erinnerte. Es war die Maschine, welche das zum Deckwaschen erforderliche Wasser emporhob. Wir, die Masse des Volks, waren in dem zweistöckigen Zwischendeck des vorderen Schiffes einquartiert. Immer je zwei geräumige Kojen über einander. Hinreichenden Raum und frische Ventilation hatten wir, die alle Schäden heilte, welche man während der großen Hitze zu Lande erlitten. Das Geraffel war für die Frühaufsteher das Signal zum Aufstehen, das sich nicht ohne Geräusch und laute Conversation bewerkstelligen ließ. Aus der einen der oberen Kojen kletterte der Inhaber mit der Geschicklichkeit eines Turners, aus der anderen sprang er gleich Harras. Aus den unteren streckten sich hier ein Paar nackte Beine und dort ein Paar in Jäger’scher Wolle mit Zehen an den Strümpfen hervor aus den sonst mit dunklen Vorhängen geschlossenen Kojen. Dann kamen die einzelnen Gestalten zum Vorschein und entwickelten beim Waschen aus den gemeinsamen Waschbecken und beim Ankleiden sehr achtungswerthe Balancirkünste. Dann folgte ein Rufen und Streiten um Schuhe und Stiefel. Und dann endlich eilten die Unermüdlichen aufwärts und ich hörte sie schreien „Borkum“ und dann „Rottum“. Ich entnahm daraus mit Genugthuung, welch schöne Fortschritte wir während meines Schlafes gemacht hatten, und schlief dann weiter, wobei mir das Aufhören des Kettengerassels sehr zu Statten kam. Als ich aufstand, waren wir schon in dem Dollart, und da das Wasser für unseren großen „Schwan“ zur Zeit nicht tief genug war, so kam ein kleinerer Dampfer, die „Norderney“, um uns aufzunehmen und durch die zur Zeit der Welfenherrlichkeit vielberühmte Schleuse – den Emdenern wurden die Staatsmittel für die Schleuse verweigert, weil sie oppositionell gewählt hatten, und das nannte man die „welfische Schleusenpolitit“ – nach Emden zu fahren, wo wir, geführt von den Emdener Herren de Vries, Oberlehrer Dr. Kuhlmann und Telegraphendirector Hoffmeister, ausstiegen, um uns, nach Einnahme eines Imbisses, der Besichtigung der Stadt und ihrer Sehenswürdigkeiten zu widmen.

Die Stadt hat einen holländischen Charakter, der sich nicht nur in holländischen Inschriften, sondern auch in holländischer Bau-Art und Sauberkeit kundgiebt. Desgleichen in dem Delft und den übrigen zahlreichen Canälen.

Die Hauptsehenswürdigkeit ist das Rathhaus mit seinen Sammlungen. Es ist ein imposanter Renaissance-Bau aus der letzten Zeit des 17. Jahrhunderts. Er hat ohne Zweifel sehr viel Geld gekostet, und ich schließe daraus, daß Emden damals noch eine reiche und blühende Stadt war.

Freilich steht über der Thür der Rathhausstube ein Vers, der uns zu denken giebt. Er heißt: „In spe et silentio fortitudo nostra“, das heißt auf Deutsch: „Unsere Tapferkeit besteht im Ausharren und Schweigen“.

Und diese Tugend des standhaften Ausharrens hat Emden noch nicht verloren. Seine Sammlungen und Kostbarkeiten sind von außerordentlichem Werthe; und es hat an Versuchern aller Art nicht gefehlt, welche schweres Geld dafür boten. Aber Emden hat das böse Beispiel anderer Städte – ich nenne Lüneburg, wo übrigens eine standhafte Minorität, freilich vergeblich, sich dem Verkaufe des Rathsschatzes widersetzt hat – nicht befolgt und die Versucher zurückgewiesen. Es hat seine Schätze bewahrt und sich seine Krone nicht rauben lassen. Unter den Silberschätzen sind namentlich einige Pokale bemerkenswerth. Einer derselben hat die Gestalt eines Schiffes. Dessen Bauch wird mit Wein gefüllt; man kann einen Theil des etwas erhöhten Sterns herunterklappen, um dort den durstigen Mund anzulegen, und während man den kostbaren Inhalt des Fahrzeuges trinkt, wehen Einem die Flaggen und flattern Einem die Segel und Taue um die Nase und vor den Augen. Die Arbeit dieses Kunstwerks ist ausgezeichnet. An einer Strickleiter z. B. klettert ein beinahe nackter Matrose hinauf. Man sieht ihn von der Rückseite; an dem Körper dieses winzigen Figürchens ist jeder Muskel deutlich erkennbar; und man findet keinen Fehler, selbst wenn man das Vergrößerungsglas zur Hand nimmt. Das kostbare Weinschiff soll ein Geschenk der Maria Stuart sein. Freilich läßt sich das nicht beweisen, aber das Kunstwerk verliert auch dadurch nichts.

Ebenso interessant wie die Silberkammer ist die sehr ansehnliche Waffensammlung, sowohl vom künstlerischen als vom militärisch-technischen Standpunkt. Das merkwürdigste Stück derselben ist ein Hinterlader aus dem siebzehnten Jahrhundert – der Urahne der Zündnadel- und der Chassepot-Gewehre.

Neben der großen Kirche ist noch das Waisenhaus zu erwähnen. Es befindet sich in einem ehemaligen Kloster. Ich sah nie vergnügtere und besser gepflegte Waisenkinder. Kleine Jungen von fünf und sechs Jahren machten am hohen Reck die Riesenwelle u. dgl., und das nicht mit Verzagtheit, sondern mit Eleganz und Wohlbehagen. Gott segne den Nachwuchs und seine Pfleger! Die Rückfahrt zum „Schwan“ war nicht ohne Schwierigkeiten. Der Canal war sehr verschlickt und die Ebbe bereits eingetreten. Einige blieben zurück und kamen per Eisenbahn nach, wie die Holländer meinten, wegen Furcht vor „Zee-ziekte“ (wörtlich: See-Siechthum); anderen gelang es nur unter Beistand thatkräftiger Ruderer das Schiff noch knapp zu erreichen. Und dann ging’s wieder hinaus auf die wogende See. Wir hatten den Wind von der Seite, und das Schiff rollte ein wenig; sonst ging die Fahrt gut; und als ich Morgens auf Deck kam, waren wir schon nicht mehr weit von dem Eingang zu dem Nordsee-Canal, der uns einladend seine riesigen Molen entgegenstreckte. Es ist wahr, der Canal langweilte uns ein wenig durch den langen Aufenthalt an den Schleusen. Allein das war unsere Schuld. Unser „Schwan“ war zu lang. Ursprünglich wollten wir unseren Weg durch den interessanten großen „nordholländischen“ Canal nehmen. Als sich da die Unmöglichkeit der Ausführung darstellte, mußten wir uns auf den weit kürzeren Nordsee-Canal zurückziehen, wo uns aber ebenfalls einige mit Zeitverlust verbundene Schwierigkeiten entgegentraten.

Desto besser konnten wir dafür den Canal mit seinen Schleusen, mit seinen Ufern und den Anwohnern studiren. Unser Zeichner giebt uns eine gelungene Probe der Letzteren. So standen sie und so staunten sie unser großes Schiff an. Der Mann in Beinkleidern von unermeßlicher Weite, – den ungarischen „Gatjen“ vergleichbar, nur daß sie nicht weiß, sondern schwarz waren; die dünnen Beine in riesigen Holzschuhen, die aussehen wie Oderkähne; auf dem Haupt den ein wenig „auf Krakehl sitzenden“ Südwester; und im Mund, und zwar in einer hierzu hergestellten Zahnlücke das kurze, schwarzgeräuchte, irdene Pfeifchen. Die theure Gattin und der hoffnungsvolle Junge waren auch dabei. Die Erstere lachte uns aus und der Letztere begrüßte uns mit einem zwar unmelodischen, aber gut gemeinten Gegröhle. Das Land zeigte uns üppige Wiesen mit Kühen so schön, als wenn sie Potter gemalt hätte, hübsche Landsitze und links im Hintergrunde die Stadt Zaandam mit vielen Windmühlen, wovon einige nicht vier, sondern nur zwei Flügel hatten. Die Stadt liegt an einem kleinen Fluß, der Zaan (Sahn) heißt. Ihr Name bedeutet den Damm an der Sahn. Wir Deutsche haben das Wort in Zardam verballhornt, und diese unrichtige Form ist seit Lortzing’s Oper „Zar und Zimmermann“ in Jedermanns Munde. Es wäre Zeit, sie abzuschaffen.

Der Canal, welcher die kürzeste Verbindung zwischen der holländischen Handelsmetropole und der Nordsee hergestellt und das Y (Ei) trocken gelegt hat, ist fünfundzwanzig Kilometer lang, acht Meter tief und durch drei Schleusen geschützt gegen den Andrang der Fluthen des Meeres. Der Volkswirth sieht ihn mit anderen Augen an, als der Maler. Er sieht nicht nur die pittoresken Gewächse am Ufer, sondern zuerst unten die in die Erde senkrecht eingerammten großen Eichenstämme; dann die horizontal gemauerten Basaltsäulen, welche den Rhein herunter gekommen; darüber dann als dritte Schicht die Mauern von Klinkersteinen; über diesen Mauern netzförmige Geflechte lebendiger Weiden, und endlich das mit Strandhafer u. dergl. befestigte Ufer.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_662.jpg&oldid=- (Version vom 22.9.2022)