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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Die Studir-Epidemie.

Von Dr. J. Herm. Baas (Worms).

„Wie es scheint, finden Sie den Ausdruck ‚Studir-Epidemie‘ ein wenig stark?“

„Stark finde ich ihn allerdings, das will ich nicht leugnen!“

„Lieber würden Sie wohl von ‚Studirsucht‘ reden?“

„Milderen und, gestehe ich es, auch etwas weniger derben Klang hätte das gewiß!“

„Aber eine Sucht, die über ein ganzes, großes Land verbreitet ist und mit jedem Jahr weitere Fortschritte macht, muß man denn doch wohl, wenigstens vom medicinischen Standpunct aus, geradezu als ‚Epidemie‘ bezeichnen!“ –

So verständigten wir uns unter einander und auch der Leser dürfte wohl auf Grund dieser Auseinandersetzung die Ueberschrift annehmbar finden, sodaß wir sofort die Sache selbst näher in’s Auge fassen können.

Wer immer die Reden, welche in den letzten Jahren bei Antritt oder Niederlegung des Rectorenamtes auf unseren Universitäten gehalten wurden, einigermaßen beachtet hat, fand sicherlich, daß in den meisten eine durch Ziffern belegte, bald größere, bald geringere Zunahme der Studentenzahl hervorgehoben ward. Das galt für fast alle einundzwanzig deutschen Hochschulen und wurde stets als ein sehr erfreuliches Zeugniß für die Zunahme der vaterländischen Cultur und natürlich auch als ein Ruhmestitel für die betreffende Universität selbst in Anspruch genommen. Und das verflossene Sommerhalbjahr brachte, wie aus allem hervorgeht, den Hochschulen immer noch größeren Stoff zu derartigen Anpreisungen; denn von nicht wenigen her wurde gemeldet, daß sie während desselben die höchste Zahl Studirender seit ihrem Bestehen (z. B. München, Bonn) erreicht haben, daß ein solcher Besuchsstand noch nicht da gewesen (Erlangen), daß die gegenwärtige Studentenziffer die höchste dieses Jahrhunderts (z. B. in Würzburg) sei, und wie die Ausdrücke mit geringen Verschiedenheiten in der Fassung immer lauten mochten.

Mit den oben berührten, zum Theil sehr schön stilisirten Lobreden und erhebenden Zahlenbeweisen für eine gewaltig fortschreitende Cultur des – Brodstudiums will nun aber eine gewichtige andre Thatsache leider gar nicht übereinstimmen, nämlich die, daß einzelne Regierungen es bereits für geboten erachteten, vor der Wahl mehrerer Studienzweige – zumal vor dem Ergreifen des Rechts- und des höheren Lehrfaches – geradezu zu warnen: der Bedarf des Staates an Vertretern dieser Fächer sei mehr als gedeckt, so daß die Aussicht auf baldige dienstliche Verwendung für solche nicht vorhanden sei etc. Nur das Studium der Theologie ward öfters noch von kirchlichen Behörden als aussichtsreich bezeichnet. Dagegen wurden betreffs des Studiums der Medicin, für welches der Staat und die Behörden kein directes Dienstinteresse haben, wiederum auf ärztlichen Congressen und noch bestimmter aus den Kreisen der praktischen Aerzte vielfach Stimmen laut, welche das Fach als völlig besetzt, ja in den meisten Städten, besonders in Großstädten, wohin der Zuzug am stärksten ist, für durchaus überfüllt erklärten.

Auch erhoben erfreulicherweise in jüngster Zeit selbst einzelne Hochschullehrer, darunter besonders gewichtig der Hallenser Professor Conrad, ihre Stimme gegen die Ueberhandnahme des Studirens, weil dadurch die Studien Noth leiden, vor allem der Ernst und die Tiefe derselben abnehmen, statt dessen aber die Sucht, möglichst bald fertig zu werden, um so vielleicht noch bei dem gewaltigen Andrang einen Vorsprung für’s praktische Leben zu gewinnen, immer mehr zunehmen müsse.

Noch mehr aber klagten viele Gymnasialdirectoren und -Lehrer über Ueberfüllung der Classen mit Hochschulaspiranten, und gegenüber den vielfachen Bestrebungen, selbst den Realschulen das Recht der Ertheilung des Reifezeugnisses für die Universität zu verschaffen, vertreten deshalb auch einzelne Gymnasiallehrer den Standpunkt, daß man sogar in den Gymnasien die Ansprüche an die zukünftigen Studirenden eher erhöhen müsse und sicher sie nicht herabmindern dürfe, damit der ungesunde Zug zum Studirenwollen nicht noch größer und dadurch der Unterricht nicht noch schwieriger und unbefriedigender werde.

Eine solche Ansicht vertrat der inzwischen seiner Stelle enthobene Straßburger Gymnasial-Director Dr. Deecke, wie seiner Zeit die Tagespresse eingehend berichtete.

Ganz abgesehen von höheren wissenschaftlichen und von pädagogischen Rücksichten, fragen sich aber auch jetzt schon Viele, die das Leben kennen: „Was soll in Zukunft aus den überzähligen Studirten werden? Vom ‚Studirthaben‘ allein kann man ja doch in dieser schnöden Welt nun einmal nicht leben, am wenigsten in unserer anspruchsvollen Zeit! Woher sollen nur noch die Stellungen kommen, welche selbst blos während etwaiger Wartezeit den Ueberzähligen den einfachen Lebensunterhalt gewähren werden?“

Das aushelfende Brodschriftstellerthum z. B. hat durch solche schon jetzt eine verderbliche Höhe erreicht, die Presse leidet nicht Noth an Bewerbern aus diesen Kreisen um Redacteurstellen und dergleichen, und das Ausland, speciell Amerika, bedarf keiner deutschen Studirten mehr. Da tritt allerdings das Gespenst des Studirtenproletariats, wovon man hier und da schon ganz offen in der großstädtischen Presse spricht, immer drohender auf, bis es endlich zur Wirklichkeit werden muß. Was es aber gerade mit einem solchen auf sich hat, das braucht man sich nicht auszumalen: liefert doch Rußland ein abschreckendes Beispiel eines solchen und ein Bild der Gefahren, die daraus der Gesellschaft und dem Staate erwachsen.

So weit sind wir freilich vorerst noch nicht; aber man muß dagegen wirken, ehe es dahin gekommen und so lange es noch an der Zeit ist. Die einflußreiche Presse vor Allem muß mit warnender Stimme den Ruf erheben: „Es studiren heutzutage zu Viele!“ Aber es soll nicht hinzugesetzt werden, wie zuweilen pharisäischer Weise aus gewissen Kreisen heraus geschieht: „Und vor Allem zu viel Unberufene“, womit dann gewöhnlich die Söhne der Bürger und Bauern gemeint sind. Denn so lange Cultur und Wissenschaften bestehen und fortschreiten, waren in allen Zweigen menschlicher Thätigkeit gerade unter den sogenannten „Berufenen“ immer am wenigsten Auserwählte, im Gegentheil, es stammten diese in weit überwiegender Zahl stets gerade aus den Reihen des Volkes; wir erinnern nur an Kepler, Luther, Fichte, Liebig und wie sie Alle heißen, deren Väter keine Hof- und Geheimräthe waren.

Nach dem schon eingangs genannten Professor Conrad betrug die Ziffer aller deutschen Studirenden im Jahre 1874 rund 13,800 – und damals wurden, soviel wir wissen, gerade keine Klagen über Mangel an Studirten laut, eher bereits das Gegentheil. Vergleicht man aber nunmehr mit dieser Angabe die Ergebnisse der neuesten Hochschulstatistik, so bekommt man fast Zweifel über die Richtigkeit jener bescheidenen Ziffer, so sehr ist dieselbe im Verlauf von nur zehn Jahren in Schatten gestellt, ohne daß die Bevölkerung des Reichs und damit die Bedürfnisse des Staats an Beamten etc. auch nur entfernt in entsprechendem Maße gewachsen wären. Die Einwohnerzahl Deutschlands hat sich unterdessen zwar immerhin um einige Millionen vermehrt, die Anzahl der Studirenden dagegen ist nahezu auf die – doppelte Höhe gestiegen.

Bereits im Wintersemester 1881 bis 1882 gab es nicht weniger als 24,866 Studenten (also etwa 10,000 mehr als 1874) an den 21 deutschen Hochschulen. Und von da an ist mit fast mathematischer Regelmäßigkeit in jedem Studienhalbjahr diese Zahl, zuweilen fast gar um ein ganzes Tausend, gewachsen. Im Sommersemester 1882 betrug dieselbe 25,818, der darauffolgende Winter ergab 26,263, das nächste Sommersemester 1883 bereits 26,630. Am höchsten aber stellte sich der Hochschulbesuch im Winter 1883 bis 1884: es waren 27,454 Studenten in den Universitätslisten verzeichnet, fast genau die doppelte Anzahl, wie zehn Jahre vorher, sodaß auf 1700 Seelen ein Studirender entfiel. Innerhalb fünf Semester, also zweiundeinhalb Jahren, demnach dritthalbtausend Studenten mehr, als vorher!

Das darf man denn doch gewiß als eine epidemische Zunahme bezeichnen, also als eine krankhafte, weil ja diese Zunahme auf das natürliche Wachsthum der Bevölkerung und das wachsende Angebot des Staates nicht zurückgeführt und nicht damit in Einklang gebracht werden kann.

Und dabei sind die zahlreichen, doch auch als Studirende aufzufassenden Schüler der Bau- und Forstakademien, der polytechnischen Hochschulen etc. noch nicht einmal in Rechnung gebracht!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 674. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_674.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2022)