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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Viel auffallender tritt die ungesunde Neigung zum Ergreifen der Studirtenlaufbahn aber dann vor Augen, wenn man einen einzelnen Studienzweig herausgreift.

Wir wählen als Beispiel die Medicin, einestheils, weil sie uns am nächsten angeht und wir daher auch die Gestaltung der Dinge im späteren praktischen Leben genauer kennen, anderntheils aber und ganz besonders aus dem schon oben berührten Grunde, weil die staatlichen Behörden kein unmittelbares Interesse und noch weniger die Neigung haben, hier ein abmahnendes Wort zu sprechen.

Im Wintersemester 1881 bis 1882, das wir auch hierbei zum Ausgangspunkte wählen, studirten 4984 junge Leute Medicin. Aerztemangel herrschte aber schon damals sicherlich nicht, am wenigsten in den Städten. Und dennoch stieg die Zahl der Medicinstudirenden im folgenden Halbjahr auf 5418. Der nächste Winter 1882 bis 1883 steigerte diese Ziffer bereits auf 5656, der Sommer 1883 ergab wiederum ein Mehr von 287 Studenten (5943) und im darauffolgenden Wintersemester war das sechste Tausend um 472 überschritten! Das giebt also für den einen Studienzweig der Medicin eine Zunahme von anderthalbtausend Studenten im Verlaufe von nur zweiundeinhalb Jahren!

Muß sich da nicht jeder Unbefangene die einfache Rechenexempelfrage vorlegen: wo sollen denn, wenn die Ziffern nur annähernd noch einige Jahre so fort anwachsen, schließlich die Kranken, von denen doch jeder Arzt einen bescheidenen oder auch unbescheidenen Theil behandeln möchte, zu finden sein? Müssen da nicht viele Aerzte müßig gehen? Sagte doch schon im Jahre 1876 der berühmte Chirurg Stromeher, freilich nicht ohne Uebertreibung, daß die Hälfte der Aerzte nichts zu thun habe!

Für jeden vorurtheilslos Beobachtenden ist heute die Ueberfüllung des medicinischen Faches außer Frage, zumal in Städten; aber auch auf dem Lande hat in vielen Gegenden Deutschlands (z. B. in Rheinhessen) bereits jeder größere Flecken seinen Arzt, ja sogar manche ganz kleine Dörfer unter tausend Seelen entbehren nicht ihres eigenen Doctors der Gesammtmedicin. Selbst für geringbedachte Assistenzarztstellen an Bürgerspitälern, Privatkliniken etc., für die sich früher kaum ein Bewerber fand, melden sich jetzt leicht Dutzende solcher. Es ist das bereits ein Zeichen ungesunder Concurrenz.

Doch kehren wir zu unserm Hauptgegenstande zurück und versuchen wir, die Ursachen aufzufinden, welche dem oben durch Zahlen erwiesenen stetig wachsenden Andrange zum Studiren hauptsächlich zu Grunde liegen mögen.

Eine der Hauptursachen, wenn nicht die Hauptursache selbst, des letzteren liegt ohne Zweifel in der Einführung des an ein ganz bestimmtes Maß von höheren Schulkenntnissen, vielmehr an ein vorgeschriebenes Reifezeugniß gefnüpften Privilegiums des einjährigen Freiwilligendienstes. Es ist ja natürlich, daß Jeder, der die Mittel und die Gelegenheit dazu hat, dem dreijährigen Militärdienst ausweicht, um in einem Jahre seiner Pflicht zu genügen. Viele Eltern aber sind, seitdem diese Einrichtung allgemein geworden ist, weniger der mit jenem Dienste verknüpften höheren Bildung oder auch nur der Zeitersparniß wegen, als in Folge der Sucht, äußerlich hinter ihren Mitbürgern nicht zurückstehen zu wollen, bemüht, ihren Söhnen die Berechtigung dazu zu verschaffen. Gilt doch der Einjährigendienst heuzutage in vielen Kreisen als ein Zeugniß für Wohlhabenheit. Bringen aber nun einmal die Betreffenden das Geldopfer, so wollen sie ganz natürlich auch alle Möglichkeiten, die durch dasselbe zu erreichen sind, ihren Söhnen offen halten. Die Knaben werden deshalb am liebsten im Gymnasium untergebracht, damit sie, sofern sie nur irgend günstig beanlagt sind, durch Fortsetzung des Classenbesuchs über die für die Erlangung der Einjährigfreiwilligen Concession festgesezte Stufe hinaus dann das Reifezeugniß für den Hochschulbesuch erlangen können. Erweist sich aber, daß die geistige Befähigung nicht genügt, den Knaben in den höheren Classen trotz aller Nachhülfestunden u. dergl. vorwärts zu bringen, so wird er von der Schule genommen und ist erst recht schlimm daran.

Bekanntlich ist das Berechtigungszeugniß an die erfolgreiche Zurücklegung der Untersecunda geknüpft, die meisten Knaben haben also ihr sechszehntes Lebensjahr bereits hinter sich, wenn sie jenes erhalten haben. Zum Erlernen eines Gewerbes, eines Handwerkes, des Ackerbaues etc. sind sie dann, abgesehen von ihrem Alter, auch als „Halbstudirte“ nicht mehr zu bringen oder nicht mehr zu gebrauchen.

„Ei!“ sagt da die Mutter, „so lassen wir unsern Sohn studiren, da kommt er auch zu einem ‚bessern‘ Leben wie wir, und dazu noch zu Ehren!“ Gesagt und – ohne Kenntniß der Verhältnisse – auch gethan! Damit ist ein Studirender mehr vorhanden und es wachsen, weil dieser Vorgang sich sehr oft wiederholt, auf solche Weise die Hunderte, ja Tausende von überzähligen Studirten derart aus dem Boden heraus: meist junge Leute, die aus rein äußerlichen Gründen, nicht aus innerem Drange studiren und deren Herz von der edlen Leidenschaft für die Wissenschaften niemals ergriffen wird. Diese reinen und wahren Brod- und Versorgungsstudenten haben denn auch nach dem Urtheile sachverständiger Männer in den letzten Jahrzehnten reißend zugenommen, und Aussichten, daß dies in Zukunft anders werde, sind nicht vorhanden, es sei denn, daß das Institut des einjährigen Dienstes aufgehoben werde, was nicht zu hoffen ist.

Weiter hat wohl auch Viele während der letztverflossenen zehn Jahre das Darniederliegen der Landwirthschaft, der Gewerbe, des Handels etc. zum Ergreifen der scheinbar so viel besseren Beamten- und Studirtenlaufbahn veranlaßt. Diese Ursache wird jedoch sicher dann wegfallen, wenn sich jene Nahrungszweige wieder heben; sie ist also keine bleibende, wie die vorher besprochene. Man wird dann wieder einsehen, daß Handwerk und Handel etc. unter Umständen besser im Leben fördern, als das Studiren. Selbst die „Sicherheit der Zukunft“ der Kinder, worauf bekanntlich gerade deutsche Eltern, im Gegensatze zu Engländern, Amerikanern etc., so bedeutendes Gewicht legen und wie sie schablonenmäßig bei der Studirtenlaufbahn vorausbestimmt zu werden pflegt, wird nicht mehr den Ausschlag geben, sobald Handel und Handwerk in den veränderten Verhältnissen der Neuzeit wieder ihre sichere Basis gefunden. Das Wagen und Ringen in Handel und Industrie ist in unserm so lange vorzugsweise Ackerbau treibenden Lande noch immer verhältnißmäßig sehr neu, und viele Eltern ziehen demselben eben die Laufbahn des Studirten vor, weil sie ganz genau vorauswissen, wie sich das Leben ihres Sohnes in derselben schablonenmäßig abwickelt. Es ist eine Beschränktheit der Lebensauffassung, die noch aus den Zeiten der Unterordnung und Unfreiheit unserer Nation herrührt und deshalb, weil sie so lange währte, auch heute noch mächtig nachwirkt, trotzdem die Stellung Deutschlands endlich wieder eine wahre Weltstellung geworden ist. Das kleinbürgerliche Denken und Handeln klebt eben den Deutschen von früher her noch vielfach an!

Dazu kommt noch, unserer Ansicht nach, daß der Deutsche von jeher geneigt ist, das Wissen zu überschätzen, es höher zu stellen, als das Können und Handeln, ganz besonders als das Handeln, welches mit körperlicher Anstrengung und Arbeit verbunden ist. Trotzdem er das schöne Sprüchwort hat: „Arbeit schändet nicht!“ taxirt er doch vielfach noch körperliche Arbeit als allzu untergeordnet im Gegensatze zu den Amerikanern, Engländern, selbst den Italienern und Franzosen, die auch jene hoch stellen, weil sie wissen, daß ohne sie die geistige nichts wirkt und nichts ist.

Mit dem soeben Gesagten in Zusammenhang steht die Anschauung, deren kürzester Ausdruck das so häufig gehörte Wort ist: „Mein Sohn soll sich einmal nicht so plagen, wie ich!“ Da man diesen Ausspruch besonders häufig gerade aus dem Munde Solcher hört, deren Beschäftigung körperliche Anstrengung verlangt, der Handwerker, Ackersleute etc., so ist er nichts Anderes, als der Ausfluß der landläufigen, zumal von den „Gebildeten“ geübten Mißachtung, die man körperlicher Arbeit zu Theil werden läßt, wenn auch Philosophen meinen, er sei der Ausfluß jener dem Menschen im Grunde angeborenen Faulheit, welche dieser nur unter civilisirten, das heißt sehr zusammengesetzten und schwierigen Lebensverhältnissen zu überwinden gezwungen sei. Wie dem aber auch sein mag, so viel ist sicher, daß man gerade in genannten Kreisen die Studirlaufbahn als die leichtere, angenehmere und auch ehrenvollere betrachtet. Leider wird dadurch das Handwerk im weitesten Sinne selbst geschädigt; denn die begabteren Kräfte werden ihm in Bethätigung jener Anschauung oft genug entzogen - und doch hat gerade und nur für solche auch heute noch das Handwerk (einschließlich Industrie und Technik etc.) einen goldenen Boden!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 675. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_675.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2022)