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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


die sonst so milde Stiftsdame, die gern über Seelenzustände sich erging, mußte keinen Rath mehr wissen. Ihr Schweigen bestätigte Ereme, daß der Bruch zwischen ihr und Bartenstein für immer feststand.

Sie ging, wie von schwerem Traume bedrückt, heimwärts.

In der Vorstadtstraße stürzte plötzlich Elsa heran, faßte ihre Hand und fragte tief vorwurfsvoll: „Warum haben Sie ihm das gethan? Ich hätte es nicht über das Herz gebracht, ihn so abfallen zu lassen.“

Ihre Mama kam dazu, aus einem neuen Haus heraus, vor dem noch Kalkkübel standen und allerhand Baustücke lagen. Sie war früher nicht zu entgegenkommend gewesen und brauchte nur ihr reservirtes Wesen Ereme gegenüber beizubehalten, um der Ehre des Regimentes weder durch Freundlichkeit, noch durch Empfindlichkeit etwas zu vergeben.

Die drei Damen nahmen den gleichen Weg.

Die Oberstin sagte: „Ich hoffte, sobald das Regiment in’s Manöver ausgerückt sein würde, zu meinen alten Eltern gehen zu dürfen. Daraus wird nichts. Das Haus, in dem wir wohnen, ist verkauft; wir müssen umziehen, und ich habe eben hier gemiethet. Das Logis ist freilich kleiner als unser bisheriges.“

Ereme sprach ein herkömmliches bedauerndes Wort.

Die Oberstin lächelte ein wenig. „Ob wir nun unsere Möbel in diesen oder in jenen Salon stellen, darauf kommt’s nicht an. Wir Soldatenfrauen werden beweglich. Wir würden sogar in einem Zelte wohnen, wenn es einmal nicht anders ginge. Und so schlimm ist’s nicht. Die Empfangsräume sowohl als die Wohnräume sind ausreichend; nur bleibt kein Platz für meine Staffelei. Landschaftsmalerei ist nämlich eine kleine Passion von mir, die ich mir aus meiner Jugendzeit erhalten habe. Die muß ich nun freilich für jetzt aufgeben.“

„Da würde ich lieber einen Empfangssalon opfern, als mein Recht auf die künstlerische Beschäftigung,“ warf Ereme hin.

„Eine gewisse Pflege der Geselligkeit gehört zu unseren Pflichten,“ antwortete die Oberstin, „und die Pflichten haben natürlich den Vortritt vor den Rechten.“

„Aber unser Geist macht den Anspruch sich auszuleben,“ entgegnete Ereme, „und ich halte es für ein Unglück, wenn er darin gehemmt wird.“

Die hellen stillen Augen der Oberstin ruhten prüfend auf ihr. „So haarscharfe Begriffe von Unglück habe ich nicht. Was ist denn der Verzicht auf eine sogenannte geistige Forderung gegen den Verlust eines Menschen, den wir lieb gehabt haben? Auch Sie würden ebenso denken, wenn Sie, wie ich, einen jungen schönen Bruder gehabt hätten, der beim Sturm auf Montbeliard zu Asche verbrannte, daß kein Knöchelchen zu uns kam, und einen Sohn wie meinen lieben Kuno, der frisch und roth von uns fortging und beim ersten Treffen fiel, ehe er nur einen einzigen Sieg erlebt hatte. Und Sie würden nicht fordern, daß Ihr Geist sich auslebe, wenn Sie sich hätten versagen müssen, einen solchen gerechten Schmerz auszuweinen, um des Mannes willen, der nach harter Kriegsarbeit, die Seele überbürdet von entsetzlichen Erinnerungen, nach Hause kam, und dessen erstes Wort war: Nun nur um Gotteswillen keine Thränen mehr! Da heißt es: sich überwinden. Und dazu hilft uns die neue Pflicht, die an uns herantritt, den Verwilderten sanft wieder zu milderen Sitten zurückzuführen. Das ist kein leichtes Loos. Aber es ist den Frauen ja einmal beschieden, sich aufzugeben, und Gott hat uns den Trieb dazu in die Seele gelegt.“ Sie blieb stehen. „Hier trennen sich unsere Wege,“ sagte sie und bog grüßend mit Elsa in eine andere Straße ein.

Ereme ging ganz betäubt von Allem, was sie erlebt und gehört hatte, nach Haus.

Als die Thür mit dem blitzenden Cerberus hinter ihr zuschlug, vernahm sie die rügende Stimme der Tante: „Dorchen, der Schöpftopf ist nicht an seinem Platz.“

„Frau Doctor, er steht neben den Wassereimern,“ war die Antwort.

„Dorchen, der kupferne Schöpftopf hat seit fünfundzwanzig Jahren an dem eisernen Haken über der Eimerbank gehangen, und so muß es bleiben, wenn nicht Alles zu Grunde gehen soll. Ach, Eremechen, Du hast Dich bei Deinem Besuch recht verspätet. Es sind zehn Minuten über die Stunde des Mittagsmahles.“

„Die Manöveradler sind fast verbrannt,“ bemerkte Dorchen, die gebratenen Tauben anrichtend. Sie trug den Kopf hoch dazu; man wußte nicht, ob über die nach der Caserne schmeckende Bereicherung ihrer Sprachkenntnisse oder darüber, daß sie ihren Schatz noch besaß, während das Fräulein den ihrigen eingebüßt hatte.

Ereme schaufelte geistesabwesend mit ihrer Gabel auf dem Teller herum.

Die Tante that den Tauben und Zuckererbsen alle Ehre an und plauderte gemüthlich dazu: „Was ich sagen wollte! Ja, was war es doch? Es war etwas Wichtiges. Richtig! Laß doch ein Spargelbeet anlegen. Sieh ’mal, der Garten ist doch sonst zu nichts nütze, und in vier bis fünf Jahren haben wir dann unseren Bedarf an Spargel selbst.“

Ereme schauderte über die Aussicht, daß sie in vier Jahren hier noch Spargel essen sollte.

Mit der Gewandtheit alter Leute, die Jugend zur Verzweiflung zu bringen, fuhr die gute alte Dame fort: „Und Du mußt einen Professor heirathen. Da könnt Ihr hier in dem schönen Hause wohnen bleiben, wo Alles eingerichtet ist. Und was Deine Vorfahren gesammelt haben, das kommt noch Deinen Kindern und Kindeskindern zu Gute. Immer wird das Wort gelten: Gleich und gleich gesellt sich gern. – Da Du nichts weiter essen willst, so wünsche ich Dir gesegnete Mahlzeit.“

Die Tante zog sich zu einem Mittagsschläfchen zurück, und Ereme begab sich in den Gartensaal.

Auf dem Tische lag die soeben angekommene neue Lieferung eines großen Prachtwerkes über Hellas. Gedankenlos schlug sie es auf. Das erste Blatt zeigte die Abbildung des Frieses, der die Festzüge darstellt, welche zu Ehren der Göttin Pallas Athene nach der Akropolis sich bewegt hatten.

An der attischen Reiterei blieb der Blick haften. Sie ritt in Gliedern, voraus der Führer.

Zum ersten Male drängte sich Ereme diesem Anblicke gegenüber eine Kritik auf. Waren die gedrungenen, kurzhalsigen, kleinköpfigen Pferde nicht dieselben, welche noch jetzt in Athen vor den Wagen gingen? Auch der Führer erschien ihr nicht mehr als die Offenbarung ewiger Schönheit. Er saß dem Pferde zu nahe auf dem Halse in gebückter Haltung, die Zweifel an seiner Herrschaft über die niedere Creatur erweckte, und die Fußspitzen hatte er so sehr nach unten gestreckt, als sei es seine Hauptaufgabe, den Boden mit denselben zu erreichen. Und vor Allem fehlte ihm die vorwärtsstürmende Energie.

Sie warf das Blatt hin und wandte sich ab.

Und da sie aufblickte, sah sie in das starre weiße Gesicht der Pallas Athene, sah sie die Puppenhand an der Lanze, und es tauchte daneben die dunkle Gestalt des deutschen Reiters auf, an dem Gott gezeigt hatte, wie ein wahres Heldenbild im Leben sich darstellt.

„Er hat Sie sehr geliebt,“ hörte sie Melanie sagen, und: „Wie konnten Sie ihm das thun?“ Elsa fragen.

Sie hätte aufschreien mögen vor innerer Qual.

Da tönte ein leises Brausen von dem Eichberge herüber. Und mit dem Brausen kam es wie die Erinnerung an eine selige Zeit über sie, wo in dieselben Töne leichter Hufschlag klang. Es zog sie mit unbezwingbarer Gewalt hinaus auf die Höhe, wo der Adler sein stolzes Haupt erhob.

Sie nahm Hut und Handschuhe und stürmte fort.

Sie eilte durch die Straßen. An allen Thüren standen Ulanen, mit den Mädchen plaudernd; es gab viel betrübte Gesichterchen, viel tröstende Worte. „Uebermorgen rücken wir aus,“ hallte es in ihr wieder.

Der weite Exercirplatz war öde. Auf der Wiese lag der zweite Graswuchs in langen Schwaden und hauchte seinen letzten süßen Duft aus; in der Luft schwebten schon einzelne weiße Sommerfäden darüber hin. Verloren zirpte noch hier und da eine Grille.

Aus einem Garten schallte der Gesang fröhlicher Studenten: „Ich liebte Dich immer, ich lieb Dich noch heut’, ich werde Dich lieben in Ewigkeit.“ –

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 719. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_719.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2022)