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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


mich ganz weich auf Stroh gebettet in einer Stube, rings umgeben von Verwundeten. Der Morgen dämmerte; vor dem Fenster wehte eine weiße Fahne mit rothem Kreuz. Der Kopf that mir weh; da ich die Hand hob, um ihn zu befühlen, war sie verbunden, und um den Kopf hatten sie mir auch ein Tuch gewickelt; überall war mir ein Pflaster hingeklebt worden. Ich fühlte mich wie zerschlagen und gelähmt. Aber ich konnte natürlich nicht liegen bleiben. Ich nahm mich zusammen und stand auf. Ein barmherziges Schwesterchen erklärte mir zwar, ich müsse mich still verhalten, aber ich versicherte ihr, daß sie mich gehen lassen müsse, wenn sie nicht wolle, daß ich hier vor Ungeduld wie eine Granate platzen solle.“

„Mit Ihren vielen Wunden, von denen neulich der Oberst erzählte?“ fragte Melanie.

„Wenn man jeden Ritz mitrechnet,“ widersprach Witold. „Etwas duselig war mir allerdings zuerst zu Muthe. Aber nachdem ich mir das Gesicht an einem Brunnen gewaschen hatte, sah ich wieder ganz klar. Ich war in Flavigny, das noch rauchte. Gepäckstücke, Tornister, zerschlagene Gewehre, Käppis lagen in den Straßen; dazwischen sterbende Franzosen und Deutsche. Träger mit der weißen Binde um den Arm, katholische Priester mit dem Rauchfaß, lutherische im schwarzen Talar eilten an mir vorüber. – Da wieherte es hinter mir. Als ich mich umwandte, stand ich vor meinem ‚Vorwärts‘. Ich fiel ihm natürlich um den Hals und – der Teufel weiß, wie es zuging – ich glaube, ich habe geweint. Er hatte es gut gehabt; denn er war an eine Linde angebunden, vor ihm ein Brunnentrog, neben ihm ein umgestürzter Heuwagen. Ich schwang mich mühsam auf und ritt hinaus, um zu erfahren, wie der gestrige Tag ausgefallen war.

Als ich auf dem Plateau von Vionville ankam, traf ich auf einen Ordonnanzofficier. Ich fragte, und er antwortete: ,Der Angriff Ihrer Brigade hat Luft geschafft. In der Nacht hat der Feind alle Stellungen geräumt. Bazaine ist abgeschnitten. Guten Morgen, Herr Camerad.‘ Fort war er. Ich blieb zurück. Im Osten hatte sich der Himmel geröthet, jetzt ging die Sonne auf. So weit ich sehen konnte, war rings um mich ein ungeheures Leichenfeld. Ueberall waren unsre Leute beschäftigt, Massengräber zu graben; die Gefallenen wurden zusammen gesucht. – Wenn man Appell halten könnte,“ fuhr er mit tief bewegter Stimme fort, „über die Todten, die dort ruhen! Eine stattliche Armee würde auferstehen. Ganze Bataillone von unsren Musketieren und Füsilieren waren vernichtet worden und nichts von ihnen übrig geblieben als der zersplitterte Fahnenstock. Brandenburger und Hannoveraner, Ostfriesen und Braunschweiger lagen dort neben einander und hörten es nicht, daß wir gesiegt hatten. Da nahm ich meine Czapka ab und betete ein stilles Vaterunser für die gefallenen Cameraden.“

Er schwieg. Melanie weinte leise. Ereme ging todtenblaß, fest an Melanies Arm geklammert, wie mit brechenden Knieen nebenher.

Es war derselbe Pfad, auf welchem sie ihm damals erzählt hatte von der Todtenklage der Cicaden im Walde der Athene. Wie klein erschien sie sich nun mit all ihren hohen Gedanken gegen ihn, der nicht reflectirte, sondern aus seinem großen starken Herzen heraus handelte! Und ihn hatte sie in ihrer Verblendung schonungslos von sich gestoßen.

Sie waren aus dem Walde herausgetreten und quer durch die Wiesen der Stelle zugegangen, wo der Kahn die Ueberfahrt vermittelte.

Ganz wie an jenem Tag, da Witold ihr in den Fluß nachsprengte, kam der Fährmann aus seinem Häuschen und stieg hinab, um den Kahn loszuketten.

Witold brach das Schweigen, indem er wieder in leichtem Tone sprach: „Es war eine tolle Attake. Aber das ist nun einmal Ulanenart. Dort, wo es sich um die Ehre des Vaterlandes handelte, ist unser kühnes Reiterstück geglückt; hier, wo ich um mein Lebensglück spielte, hat mein verwegenes Vorwärtsgehen eine Niederlage gefunden. Immer besser so, als ich hätte hier gesiegt, und wir wären im Felde geschlagen worden. Besser, daß eine Deutsche einen der Sporen, die ich bei der Attake trug, auf den Kehricht geworfen hat, als wenn ihn ein Franzose zu triumphirendem Andenken aufbewahrte.“

Melanie starrte ihn verständnißlos an. Er aber blieb am Kreuzweg stehen und wandte sich an Ereme, die unter seinen letzten Worten erbebte. „Gestatten Sie, gnädiges Fräulein, daß ich diese Gelegenheit benutze, mich Ihnen zu empfehlen. Ich glaube nicht, daß der Zufall mich noch einmal mit Ihnen zusammenführen wird. Ich sehe Sie schwerlich wieder. Uebermorgen rücken wir in’s Manöver aus, dann gehe ich auf Urlaub zu meinen Eltern, und dann hoffe ich versetzt zu sein.“ Er verbeugte sich zum Abschied.

Da richtete Ereme sich plötzlich aus ihrer gebrochenen Haltung auf und trat ihm in den Weg. „Nein“, sagte sie, und ihre Stimme tönte jetzt voll und klar, „nein, nicht Sie sollen gehen. Sie haben Ihr Leben für das Vaterland auf’s Spiel gesetzt, Sie sollen frei und ungehindert auf jedem Stückchen Erde in demselben leben können. Ich aber habe mich gegen die Heimath versündigt. Ich verstand nicht, was in den Eichen brauste, was der Fluß murmelte, was die sprießenden und fallenden Blätter verkündeten. Jetzt weiß ich es; jetzt verstehe ich die Stimme der Heimath; aber ich habe das Recht verwirkt, die Harmonie mit ihr zu genießen. Ich habe mich versündigt gegen das Volk, dem ich angehöre; ich habe es zurückgesetzt, gering geachtet gegen ein fremdes. Jetzt weiß ich, daß ich stolz darauf sein dürfte. Erst nachdem ich die hohen Güter, die das Schicksal mir bot, verspielt habe, ist das eherne Band gesprungen, das meinen Sinn gefesselt hielt, und ich sehe ein, wie bettelarm ich bin. Nur Eins habe ich gerettet: die Fähigkeit, mein Unrecht zu erkennen und zu sühnen. Wie der Feind Ihre kühne Attake mit verzweifelter Kraftanstrengung zurückwies und doch dann seine Positionen verließ, so habe auch ich mir einen Augenblickserfolg erkämpft und räume nun das Feld. Ich gehe nach Griechenland zurück. In die versunkene Welt gehört die Einsame.“ Das Wort tauchte aus einer Fluth von Thränen auf und erstickte ihre Stimme.

Sie wandte sich dem Kahne zu.

Witold und Melanie wollten sie aufhalten; aber mit unabweisbarer Geberde winkte sie beide zurück. Und wenn bisher er es gewesen war, der ihren Willen in Banden zu schlagen vermochte, so war er jetzt so ganz in ihrer Macht, daß sie mit dem Blick ihrer großen ernsten Augen ihn an seinen Platz bannte, während der Kahn vom Ufer abstieß.

Da fuhr sie hin, geisterhaft bleich, vom weißen Kleide und Schleier umwallt.

Noch einmal wandte sie die Augen zurück. So blicken die Schatten, die in Charon’s Nachen steigen, noch einmal nach dem Gestade der Lebenden ohne Furcht und ohne Hoffnung.

Melanie schaute ihr nach, die Hände faltend und klagend: „Das war nun der lustige Krieg. Ich habe das Ende kommen sehen und Sie Beide gewarnt. Warum haben Sie nicht darauf gehört? O, daß wir das Beste und am schwersten Erworbene, unsere Erfahrungen, nicht auf Andere zu übertragen vermögen!“

Als sie sich nach Witold umblickte, war er nicht mehr an ihrer Seite. Sie sah ihn schon eine Strecke entfernt in raschem Schritte zwischen den Wiesen davon gehen.

Sie ging nach Hause. Wie stiller Friede kam es über sie, als die Pforte des Stiftes sich hinter ihr schloß. Im weiten Hofe, dessen alte Pflastersteine wie abgeschliffen in grünen Grasfränschen lagen, girrten weiße Tauben, die von den Damen gefüttert wurden.

In ihrem Zimmer sprang ihr Darling vergnügt entgegen. Die Hängelampe erleuchtete den zierlich gedeckten Theetisch, in dem silbernen Kessel summte das Wasser, und durch die offenen Fenster zog der Duft von Reseda aus dem Garten herauf.

Mit wiederkehrendem Behagen ordnete sie den mitgebrachten Rosenstrauß in dem Blumenkorbe aus Eichenborke und Eichelnäpfchen, einem Producte der Greifenberger Industrie. Sie entließ die Jungfer und bereitete den Thee, von welchem der kleine Gourmand Darling einen schwachen Aufguß bekam.

Die anmuthige Stiftsdame war innerlich älter, als sie äußerlich erschien, und mit dem Ruhebedürfniß, das die fortgeschrittenen Jahre im Gefolge haben, sagte sie sich: „Gott sei Dank, daß die Stürme, welche Jugend und Liebe mit sich bringen, für mich vorüber sind.“

(Schluß folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 735. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_735.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2022)