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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 47.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Das Urbild des Fidelio.

Erzählung von Ernst Pasqué.

Die Herrschaft des Schreckens, der Paris und Frankreich im Jahre 1793 verfallen war, die sich in Robespierre verkörpert fand und allerorten Ströme Blutes fließen ließ, mußte eine Gegenbewegung zur Folge haben. Im Westen, Süden und Norden empörte sich das Volk gegen seine Bedrücker, die Männer der Revolution, die ihm Freiheit und Gleichheit versprochen und dennoch sein Blut verlangten. Toulon und Marseille, Lyon und Bordeaux erhoben sich, wie die Vendée, die Bretagne und die Normandie, und der Wohlfahrtsausschuß sandte seine Heere und Generale, seine Henker mit der Guillotine nach allen Richtungen aus, die Aufrührer zu vernichten. Fréron und Barras ließen in Toulon die Guillotine ihre Blutarbeit verrichten, Tallien in Bordeaux, Robert Lindet in Caen, doch am schrecklichsten wüthete Carrier in dem unglücklichen Nantes.

Schon 1792 hatte sich die Vendée erhoben; dreihunderttausend Aufständige unter dem See-Officier Charette und dem Wildmeister Stofflet, mit dem Fuhrmann Cathelineau als Hauptcommandant, kämpften mit Glück gegen die Republikaner. Nach dem 31. Mai des Jahres 1793 mußten sie, durch mancherlei Unfälle gezwungen, der Uebermacht weichen. Achtzigtausend Vendéer, Männer, Weiber, Kinder, verließen ihre von den Schreckensmännern bedrohte Heimath und suchten einen Rettungsweg durch die Bretagne zu gewinnen. Doch von den „höllischen Colonnen“ des Generals Turreau verfolgt, wurden sie bei Le Mans, dann bei Savenay überfallen und entweder vernichtet oder zu Gefangenen gemacht. Nur wenigen Tausenden gelang es, wieder die Vendée zu erreichen. In Le Mans waren die Gefängnisse mit den Unglücklichen vollgepfropft, auch Tours hatte ihrer eine große Anzahl aufnehmen müssen, und gefesselt, in langen Zügen oder auf Karren, wurden sie von diesen Orten nach Nantes geschleppt, um zu Hunderten, ohne Verhör und Urtheil, füsilirt oder in den Fluthen der Loire ertränkt zu werden, da die Guillotine dem Blutmenschen Carrier viel zu langsam arbeitete.

So hatte denn auch die Hauptstadt der sonnigen Touraine, das alte Tours, die „Segnungen der Revolution“ in Form ihrer Schrecken kennen gelernt, wenn auch nicht in gleich furchtbarer Weise wie Nantes. Die Pariser Machthaber „beglückten“ die Stadt und deren zu Sansculotten und Jacobinern gewordenen Bewohner vorerst mit einem Revolutionstribunal, und als Vorsitzenden der fünf Richter, die, wie überall in der Provinz, ohne Geschworene verurtheilten, sandte es ihnen einen jungen, etwa dreißigjährigen ehemaligen Parlamentsadvocaten mit Namen Jean Niclas Bouilly. Derselbe war in Coudraye bei Tours geboren, in letzterer Stadt erzogen worden, kannte also den Ort, der von allen der Republik feindlichen Elementen gereinigt werden sollte, genau, hatte sich auch bereits als echter Republikaner bewährt, indem er früher gezeigte royalistische Gesinnungen in einer die revolutionären Machthaber befriedigenden Weise verleugnete. Bouilly war zugleich dramatischer Dichter und hatte als solcher mehrere Opern geschrieben, von denen eine von Gretry, dem beliebtesten Componisten jener Epoche, in Musik gesetzt worden war.

Mit seiner jungen Gattin, einer Tochter Gretry’s, war Bouilly in Tours eingezogen und hatte seine richterlichen Functionen, denen es an dramatischer Belebung nicht fehlen sollte, angetreten. Er bewohnte einen Theil des ehemaligen erzbischöflichen Palastes, in dem das Revolutionstribunal tagte, während die Gefängnisse sich in den noch erhaltenen Theilen der Abtei St. Martin befanden. Diese alte Abtei- und Domkirche mit ihren zwei massigen Thürmen, die noch von Karl dem Großen herrühren sollten und deshalb seinen Namen trugen, war schon in den Religionskriegen von den Calvinisten verwüstet worden, und die Sansculotten hatten das Zerstörungswerk wieder aufgenommen und, soweit es ihre Kräfte erlaubten, auch vollendet. Mit ihr fiel das in der Nähe liegende alte Hôtel des Grafen Semblancay, die herrliche Abtei des Marmoutiers und zahlreiche andere kirchliche Gebäude und Sitze der Adligen. Die Ueberreste der Abtei St. Martin bildeten mit ihren beiden gewaltigen und unzerstörbaren Thürmen der noch in ihren starken Umfassungsmauern erhaltenen Kirche einen großen mehr oder minder verwüsteten Gebäudecomplex, der, von hohen festen Mauern umgeben, sich zu einem sicheren Gefängnisse für die vielen Gefangenen, Männer, Weiber und Kinder, die bei Le Mans und Savenay in die Hände der Republikaner gefallen waren, wohl eignete.

Anfänglich verfuhr der neue Richter so milde, als ihm dies nur möglich werden konnte, denn er war im Grunde ein gemäßigter, kein blutdürstiger Republikaner. Doch bald folgte ihm zu seiner Unterstützung die Guillotine mit einer Abtheilung der sogenannten „Marat-Compagnie“, Sansculotten der entsetzlichsten Sorte. Zugleich wurde dem neuen Richter von Tours von dem Wohlfahrtsausschuß die sehr deutliche Weisung ertheilt, nicht so lau wie bisher zu verfahren, und damit er die beste Gelegenheit habe, seine republikanischen Gesinnungen zu bethätigen, übertrugen die Pariser Machthaber ihm das noch weit wichtigere Amt eines öffentlichen Anklägers. Nun mußte Bouilly voran auf dem blutigen Wege, wollte er nicht selbst sein Haupt der Guillotine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 765. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_765.jpg&oldid=- (Version vom 12.10.2022)