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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

verfallen sehen. Von den Henkern der Marat-Compagnie, welche die Wächter der Stadt geworden waren und deren Thore besetzt hielten, brauchte ihn nur Einer dem entsetzlichen Carrier zu denunciren, und sein Kopf mußte fallen. So arbeitete denn von nun an auch in Tours die Guillotine mit ungeschwächter Kraft.

Die Gefängnisse in der ehemaligen Abtei St. Martin leerten sich rasch. Täglich fuhren Karren, mit geknebelten Gefangenen, Gesunden, Kranken und Verwundeten hochauf beladen, nach der Hauptschlachtbank Nantes ab, während nur die aus der Stadt und deren nächster Umgegend herstammenden Gefangenen in Tours selbst abgeurtheilt und gerichtet wurden. Doch brachte man auch wieder neue Unglückliche ein, welche die Marat-Compagnie, im Verein mit den einheimischen Sansculotten und Jacobinern, in der Umgegend als Flüchtlinge aufgegriffen, oder ohne irgend einen nennenswerthen Anlaß aus ihren Wohnungen gerissen hatte.

So zog denn eines Tages nach einem solchen Ausfluge die mit Piken bewaffnete Horde unter lärmendem Jubel in Tours ein, einen Gefangenen mit sich führend, den sie als einen seltenen und wichtigen Fang betrachten durfte. In den Grotten der Savonnière, wenige Stunden von Tours am südlichen Ufer des Cher gelegen, hatte man ihn, doch nur durch den Verrath eines Elenden, überfallen können, und welch ein Triumph war dies für die sansculottischen Bluthunde! Denn der Gefangene war kein Anderer, als der junge Graf René von Semblancay, einer der Anführer der aufrührerischen Vendéer, dessen altadeliger Familiensitz in Tours vor wenigen Monaten durch die fanatische Bande geplündert und durch Feuer zerstört worden war. Den Grafen selbst hatte man weder damals, noch später greifen können; es war ihm gelungen, sich mit seiner jungen Gemahlin Blanche, einer geborenen Gräfin von Plessis-Amblay, noch rechtzeitig aus der Stadt zu flüchten. Nach der Katastrophe, welche bei Le Mans über die Seinigen hereingebrochen, hatte er in den düsteren Höhlen der Savonnière, wohl von irgend einem alten treuen Diener mit dem Nöthigen versorgt, eine scheinbar sichere Zuflucht gefunden. Doch nun war er, trotz aller Vorsicht, seinem Schicksale nicht entgangen.

Der Zug der Sansculotten mit der seltenen Beute glich einem Freudenfeste. Von allen Seiten eilten die Männer herbei, die den Gefangenen nur zu rasch wieder erkannten und ihn mit fanatischem Jubel begrüßten, mit Verwünschungen und Beschimpfungen überhäuften, ihn, der, wie einst sein Vater, den Bewohnern von Tours nur Gutes gethan hatte. Mitleidig und bang schauten die Weiber auf den Unglücklichen, der hocherhobenen Hauptes dem traurigen Schicksale, das seiner erbarmungslos harrte, entgegenging; sie erinnerten sich dessen wohl, was die armen Seidenweber der Stadt dem Grafen zu verdanken gehabt hatten, wußten aber auch, welch schreckliches Schicksal die Undankbaren dem edlen Manne bereiten würden.

Als der Zug bei der Wohnung des öffentlichen Anklägers angelangt war, der Gefangene, endlich von der fanatischen Menge befreit, vor seinem Richter stand, da erbleichte Bouilly sichtlich und fühlte sich bis in sein Inneres erschüttert. War doch eine Besitzung des Grafen, der Flecken Coudraye mit seinem stattlichen, nun auch in Trümmern liegenden Schlosse die Stätte seiner Geburt! Hatte er doch als Knabe mit dem jungen Grafen René, der in seinem Alter stand, gespielt, später mit ihm die Wälder durchstreift und eine schwärmerische Jugendfreundschaft für das Leben mit ihm geschlossen! Dann hatten sie sich trennen müssen; Bouilly war nach Orleans auf die Universität, dann nach Paris gezogen – er hatte den Grafen René von Semblancay aus dem Gesicht verloren, ihn im Laufe der wildbewegten Zeit wohl gar vergessen, und nun stand Jener plötzlich vor ihm als sein Gefangener, den er, der Jugendfreund, anzuklagen, zu richten hatte, dessen Loos kein anderes sein konnte, als der Tod durch die Guillotine.

Graf René blickte dem Genossen seiner Knaben- und Jünglingsjahre mit einer ruhigen, ernsten Hoheit in’s Auge, keine Furcht empfand er, nur Mitleid mit dem Manne, den er einstens Freund genannt, und der nun in seinen Augen so tief, bis zu einem Werkzeuge des blutigen Schreckens herabgesunken war. Er schien der Richter, Bouilly der Angeklagte zu sein. Endlich wurde dieser sich doch seiner Stellung, hauptsächlich aber seiner augenblicklichen gefährlichen Lage bewußt, und sich an seine sansculottische Umgebung wendend, deren Blicke bereits Staunen und Mißtrauen kündeten, sprach er mit der starren Ruhe des Richters:

„Bürger Pujol, bringe den Gefangenen in die Abtei, wo er am sichersten aufgehoben sein wird. Gleich morgen soll sein Proceß beginnen und ihm das Urtheil gesprochen werden. Ihr aber, Citoyens und Sansculotten von Tours, habt Euch durch Euren Eifer um das Vaterland verdient gemacht.“

Ein alter Mann mit der Carmagnole, der weiten Aermeljacke der Revolutionsmänner, angethan, eine schmutzigrothe Freiheitsmütze auf dem fast kahlen Haupte und um den Leib einen Ledergurt mit einem gewaltigen Bund Schlüssel der verschiedensten Größen und Formen, bemächtigte sich des Gefangenen und führte ihn hinweg. Mehrere mit Piken bewaffnete Sansculotten, abstoßende Gestalten, die Wächter des Gefängnisses, folgten ihnen, während die Uebrigen, nunmehr durch das Thun des Richters befriedigt, durch seine Worte sich geschmeichelt fühlend, mit frechem Lärmen das Local verließen.

Nach einem kurzen Gange durch die Gassen betrat der alte Pujol mit dem Grafen und seinen Wächtern den weiten Hof der Abtei, in dem in wüstem Durcheinander Karren mit halbverfaultem Stroh standen, die zu dem Gefangenentransport nach Nantes gedient hatten. Auf die ehemalige Kirche schritt er zu, und durch eine kleine, doch schwere Pforte hieß er mit mürrischen Worten den Gefangenen eintreten, worauf sich der Einlaß mit einem knarrenden Geräusch, das in der Oede der weiten Kirche unheimlich widerhallte, hinter dem Grafen schloß. Es war ein entsetzlicher Anblick, der diesem beim Betreten seines nunmehrigen Gefängnisses wurde und seinen Fuß auf der Schwelle bannte. Von der Kirche standen nur noch die Umfassungsmauern, die massigen Säulen mit ihren schweren romanischen Capitälen, die jedoch nur noch einen Theil der Gewölbe trugen. Der größte Theil derselben war mitsammt dem Dach zerstört, und durch die gewaltige Lücke blickte der klare blaue Himmel der Touraine nieder auf die Gräuel, welche Frevlerhand an dem altehrwürdigen Gotteshause begangen. Das Innere der Kirche bot ein entsetzliches, ekel erregendes Bild der Verwüstung und Entheiligung, hatte es doch noch bis vor kurzer Zeit Hunderten von Gefangenen, Männern, Frauen und Kindern, Kranken und Verwundeten als Aufenthalt dienen müssen, bis sie nach Nantes abgeführt worden waren, um dort Erlösung von ihren Qualen durch den Tod zu finden. Auf Schutthaufen, halbverfaultem Stroh, auf den Steinplatten des Bodens, in den zertrümmerten Kirchenbänken und Chorstühlen hatten die Armen tagelang gehaust, nur von etwas Brod und faulendem Wasser lebend, das ihre grausamen Wächter ihnen höhnend vorgesetzt.

Heute war dieser so tief entweihte Kirchenraum leer, und trotz seines eklen, ruinenhaften Zustandes mußte man ihn als ein sicheres Gefängniß betrachten. Die noch vorhandenen Pforten, theilweise mit schweren Balken und riesigen Eisenklammern fest verwahrt, hatten starke Schlösser, und die immer noch mit ihren Eisengittern versehenen Fensterhöhlen befanden sich hoch über dem Boden, sie gingen noch dazu auf den fest umgrenzten Hof hinaus, der Tag und Nacht von fanatischen Patrioten streng bewacht wurde. Ein Entkommen, ohne Hülfe von außen, war unmöglich, dies mußte Graf René sich sagen, im Falle seine Gedanken solche Wege wandeln sollten. Doch über Anderes, als sein eigenes Schicksal, hatte er in diesem Augenblick nachzusinnen.

An seine junge Gemahlin Blanche, die er mehr als das eigene Leben liebte, wie eine Heilige anbetete, mußte er denken, von der er plötzlich weggerissen worden war, ohne ihr nur noch einen Abschiedsgruß gesagt zu haben, deren ungewisse, gefährliche Lage ihm weit mehr Weh und Bangen bereitete, als seine eigene. Kurz vor Beginn der Revolution hatte er sie heimgeführt, um bald als Flüchtling das Haus seiner Väter mit ihr zu verlassen, um sich dann von ihr zu trennen und mit Tausenden Gleichgesinnter in den Krieg für Thron und Altar, für Gott und seinen König zu ziehen. Gräfin Blanche, ebenso muthig wie schön, wollte ihrem Gemahl in diesen Kampf folgen, um Gefahren und Entbehrungen mit dem Geliebten zu theilen. Doch diesem Vorhaben widersetzte sich Graf René. Er brachte die Geliebte in der Nähe von Tours bei einem alten erprobten Diener unter, und als des Kampfes unglückliches Ende genaht, flüchtete er sich zu ihr und barg sich in ihrer Nähe. Nun war er doch gewaltsam von ihrer Seite gerissen worden; was nach seiner Gefangennahme aus ihr, der Heißgeliebten geworden, das wußte er nicht, und dies verursachte dem starken und edlen Manne größere Qualen, als er sie je um sich selber hätte erdulden können.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 766. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_766.jpg&oldid=- (Version vom 11.10.2022)