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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

„Er kommt schon noch an die Reihe,“ brummte Pujol, – „wie wir Alle, Du nicht ausgenommen, daran kommen werden.“

In der Sacristei bei dem Grafen angelangt, stellte Pujol den gefüllten Krug nebst dem Brod vor den Grafen hin, der schweigend mit verschränkten Armen auf der Bank saß und die Eintretenden nicht zu beachten schien. Dann sagte der Alte ihm mit barschem Tone:

Hier Eure Kost – es wird reichen.“

„Morgen folgt das Dessert,“ setzte Le Borgne mit frechem Höhnen hinzu. „Ihr bezahlt es dem Pujol mit Eurem Kopfe, und mir wird Euer Hemd eine frischgefärbte rothe Mütze liefern.“

„Du bürgst mir für den Gefangenen während meiner Abwesenheit,“ unterbrach Pujol die Rede des entsetzlichen Menschen, „und nun fort!“

„Hättest den Cidevant keinem Besseren anvertrauen können, als mir, Vater Pujol,“ rief Le Borgne noch im Abgehen, „und daß Du es gethan hast, stellt die Lauterkeit Deines Patriotismus in meinen Augen wieder her.“

Beide verließen die Sacristei der Kirche. Draußen übergab Pujol Le Borgne einen Bund Schlüssel und schärfte ihm nochmals ein, Niemand, wer es auch sei, zu dem Gefangenen zu lassen und ebenso wenig selbst dessen Zelle zu betreten. Dan machte er sich auf den Weg nach der Wohnung des öffentlichen Anklägers, des Citoyen Bouilly.

Mit diesem hatte der Alte nur eine kurze Unterredung, denn auffallend rasch, kaum die nöthigsten Fragen stellend, war Bouilly auf Alles eingegangen, was Pujol ihm vorgeschlagen hatte: die Karren, welche vor etwa einem Monat mehreren Bauern der Umgegend von Tours gewaltsam davongeführt worden waren, gedachte er den Leuten wieder zuzustellen, erstens, um den Hof des Gefängnisses von ihnen zu säubern, und dann um den armen Bauern und guten Sansculotten wieder zu ihrem Eigenthume zu verhelfen.

„Von selbst kommen sie nicht, die armen Teufel haben zu große Furcht vor unserer Abtei, die sie als Falle betrachten und freiwillig, unaufgefordert nie betreten werden. Nur ich bin im Stande, sie zu beruhigen, und werde es thun, es geht nicht gegen meine Pflicht. Deshalb will ich morgen früh ganz in der Stille hinausgehen und werde im Laufe des nächsten Vormittags wieder zurück sein. Die Schlüssel übergab ich Le Borgne, der ja auch mein Stellvertreter ist, wenn ich – draußen auf dem Platze bei der langen Brücke zu thun habe.“

Also meinte er und also geschah es. Mit beginnendem Tagesgrauen rüttelte Pujol Le Borgne aus dem Schlafe, machte ihn nochmals mit dürren Worten für den seiner Obhut anvertrauten Gefangenen verantwortlich und verließ die Gefängnisse der Abtei, draußen den Weg nach dem nahen Ufer des Cher einschlagend.


Am andern Morgen gegen elf Uhr zog der alte Pujol, den derben Knotenstock in der Hand und über der Schulter einen Sack vollauf und schwergefüllt, wiederum in Tours ein. Doch war er heute nicht allein, eine junge Bäuerin in der Kleidung, wie sie in der Umgegend von Tours getragen wurde und fast der der Bretagner und Vendéer ähnlich war, begleitete ihn. Ihr Körper stak tief in den vielen und weiten Röcken drin und das über der Brust geschnürte Mieder, noch von einem kreuzweis gefalteten dicken Tuch bedeckt, schien für ihren Oberkörper zu kurz zu sein, wodurch die ganze Gestalt etwas Plumpes, Unbeholfenes und deshalb durchaus nichts Anziehendes erhielt. Ihr Gesicht erschien von der heißen Sonne der Bretagne stark gebräunt, und erst bei schärferem Schauen vermochte man die regelmäßige Schönheit der Züge zu entdecken. Nur das braune Auge leuchtete unbehindert unter der weißen Haube hervor, die mit ihrem breiten, plattgefalteten Rande auf der Stirn eine kleine Spitze bildete, wodurch die Kopfbedeckung der Bewohnerinnen der Touraine und der Bretagne zu einer so hübschen und originellen gestaltet wird. Alles Haar war aber unter dieser Haube versteckt, und dies that wiederum dem sonst gewiß hübschen Gesicht Abbruch. Auch sie trug ein Bündel, in ein rothgeblümtes Tuch geknüpft, im Arme und in der Hand einen fast ebenso derben Knotenstock wie der alte Pujol.

Als Beide sich den Sansculotten näherten, welche die Wache am Thore hatten, mußten sie manche Spottreden hören: „Der alte Vater Pujol hat sich ein frisches Schätzchen geholt!“ so tönte es unter frechem Lachen ihnen entgegen.

„Welch häßliche Vogelscheuche!“ rief ein Anderer. Die plumpe Dirne genügte mir nicht einmal als Spülmagd!“

„Dem Henker genügt sie; dem ist ja jeder Kopf genehm! Gleichviel ob schön, ob häßlich, sie müssen ihm alle an’s Messer.“

„Er geht eben scharf in’s Zeug, und lange erträgt keine seine Liebkosungen.“ Und rohes Gelächter folgte jedem dieser entsetzlichen Späße.

„Mach’ den Bürgern Deine Reverenz, Margot,“ sagte Pujol ruhig zu seiner Begleiterin, „und zeige ihnen, daß Du doch nicht ganz so häßlich bist, wie sie annehmen.“ Dann wandte er sich an die Männer, und während Margot unmerklich erbebend recht unbeholfen knixte, rief er diesen mit scherzendem Tone zu: „Es ist meines Onkels Enkelkind. Hab’ sie mir als Magd mitgenommen, um ihr hier eine gute Erziehung zu geben. Doch stellt die Dirne sich nicht besser an als bisher, dann mag sie sich lieber heute wie morgen wieder heimtrollen.“

Damit schritt er weiter und zog Margot ziemlich unsanft mit sich fort. Neues dröhnendes Lachen und rohe Scherze folgten ihnen.

Als Beide die breite Straße hinschritten, welche Tours in zwei Hälften theilt und nach der langen Brücke über die Loire führt, sagte Pujol leise zu seiner Begleiterin:

„Das war ein Anfang, aber noch nichts gegen das, was uns bevorsteht. Werdet Ihr es ertragen können?“

„Ich will Alles – das Abscheulichste überwinden, kann ich nur mein Ziel erreichen,“ antwortete die Bäuerin in gleich heimlicher Weise, doch mit fester Stimme.

„Dann – mit Gott voran! Und vergeßt nicht das Ge ringste von unseren Abmachungen.“

Sie gingen weiter. Plötzlich blieb Margot stehen, und unwillkürlich zusammenschauernd deutete sie in der Richtung nach der Brücke hin und fragte: „Was ist das?“

Am Ende der Straße, mitten auf dem großen freien Plaze vor der langen Brücke, sah man eine seltsame Maschine: aus einem viereckigen, rothangestrichenen Gerüste stiegen zwei Balken von gleicher Farbe hoch empor, die oben durch ein Querholz mit einander verbunden waren und in ihrer Mitte ein breites Eisen in einem kalten, gleißenden Scheine hervorschimmern ließen. Der Mann an Margot’s Seite blickte finster zu Boden und brummte mürrisch als Antwort: „Was geht’s Euch an? Schaut nicht hin, es ist nichts für Euch!“ – Dann bog er hastig mit seiner Begleiterin in eine enge Seitengasse ab.

Noch eine kurze Wanderung, und das Thor der Abtei war erreicht. Ein lauter Ruf Pujol’s, und Le Borgne zog den Riegel zurück. Die beiden Ankömmlinge betraten den Hof. Sofort wurden sie von den wachehaltenden Patrioten mit lustigen Grüßen, mit Lachen und derben Scherzen empfangen, und die peinliche Scene von vorhin wiederholte sich in noch lärmenderer Weise. Nur Le Borgne sagte nichts; er blickte mit seinem häßlichen Lächeln die Bauerndirne von unten herauf frech und durchdringend an und fragte endlich scheinbar gelassen Pujol:

„Wirst Du nun Dein Amt wieder übernehmen? Soll ich Dir die Schlüssel einhändigen?“

„Behalte sie nur noch eine Weile, sie sind in den besten Händen,“ entgegnete der Alte gleich ruhig. „Werde wahrscheinlich noch einmal hinaus müssen; auf alle Fälle giebt es heute viel zu thun, und da wird mir Deine Hülfe nothwendig sein.“

Einen Augenblick schaute Le Borgne stumm von der Seite zu ihm auf, dann sagte er:

„Gut, ich will Dein Amt weiterführen, als ob Du hinaus müßtest in den Dienst der Sainte Guillotine, doch dann will ich auch von meinem Rechte als Schließer Gebrauch machen. So frage ich Dich denn, Bürger Pujol, was schleppst Du in Deinem Sacke in die Abtei ein und wer ist die Bauerndirne? He! Du siehst, ich vertrete Dich gut.“

„Das Mädel ist eine entfernte Verwandte, wie ich schon den Freunden am Thore sagte, und soll mir hier als Magd, Euch als Schenkin dienen,“ antwortete der alte Pujol mit größter Ruhe. „Und in dem Sacke ist weiter nichts als köstlicher Proviant für Euch, den ich draußen bei den Bauern requirirte. Holla, Margot! hinein mit dem Sack und ausgepackt, denn die Frühstückszeit ist da!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_782.jpg&oldid=- (Version vom 11.10.2022)