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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Brausejahre.
Bilder aus Weimars Blüthezeit. Von A. v. d. Elbe.
(Fortsetzung.)
32.

Verzeihung, meine Mutter! Verzeihung!“ schluchzte eine tief zur Erde gebeugte Gestalt, die aus ihren Knieen am Lager der alten Frau von Werthern lag, welche, krank und bleich, sich umsonst bemühte, der Knieenden zu antworten.

Endlich überwand die Leidende ihre Schwäche, ihre Gemüthsaufregung soweit, daß sie einige Worte hervor zu stammeln vermochte.

„Steh’ auf, Emilie! – Unglückliches Kind! Sprich – erkläre mir Alles!“

Die Knieende ergriff der Kranken abgezehrte Rechte, preßte wiederholt ihre brennenden Lippen darauf und rief:

„O, ein gutes Wort von Ihnen, Dank, glühenden Dank! – Mutter, wie habe ich mich nach Ihnen gesehnt! Wie furchtbar ist es, sich selbst zu den Todten geworfen zu haben!“

Die alte Dame bat sie, sich auf den Stuhl neben ihrem Bette zu setzen, dann fuhr sie mühsam und leise sprechend fort:

„Ich kann’s noch nicht fassen, daß Du es wirklich bist, Emilie, die vor drei Jahren Gestorbene! Mein liebes Schmerzenskind – für dessen Tod ich Gott mit tausend Thränen dankte. Emilie erstanden! Ist’s auch keine Fieberphantasie? Laß Dich betasten, komm näher. Nein, so greiflich kann eine Vision nicht sein!“

„Ich bin’s, o Mutter, ich bin’s! Ich halte und küsse Ihre Hände, ich streichle Ihre Wangen, ich darf Sie wieder anblicken, darf es wagen, Ihnen zu beichten, mein armes, jammervolles, beladenes Herz auszuschütten?“

„Nur ruhig, Kind, ich ertrage Deinen Ansturm nicht; setze Dich da hin; meine Hand magst Du halten, und dann erzähle, beichte, wie Du es nennst, ich verstehe von allem Vorgefallenen gar nichts.“

„Wo soll ich beginnen, Mutter? Sie waren voll Sorge für mich, des Herzogs halber; der ward mir nicht gefährlich, er meinte es auch gar nicht ernstlich. Er war noch so jung, wollte lustig sein. Dies Spiel, diese harmlose Thorheit half mir so gut über mein elendes Zusammenleben mit Werthern hinweg!“ Emilie schilderte nun ausführlich, wie ihre Leidenschaft zu dem Hausgenossen, dem stillen Gelehrten Moritz von Einsiedel, sich angesponnen, wie die Trennungsstunde sie zu einander geführt habe. Wie sie auf dem Gute des Bruders das Scheiden von Moritz nicht zu überstehen vermocht und wie sie endlich mit einander beschlossen, eine Komödie in’s Werk zu setzen, die sie rette. „Während ich heimlich mit dem Geliebten entwich,“ fuhr sie bewegt fort, „ließ mein treuer Bruder eine Puppe statt meiner beisetzen und schrieb meine Todesanzeige. Aber das kühne Abenteuer hatte sich bitter gerächt. Die Ausbeutung der Goldbergwerke in Afrika war eine verfehlte Speculation gewesen, wir haben Jahre schwerster Kämpfe durchgemacht.“

„Und was nun, unglückliches Kind?“ fragte die Mutter.

„Moritz will den Herzog bitten, ihn wieder im Bergfache anzustellen, und dann hoffen wir, uns nach tausendfältigem Elend, nach vollem Ausgestoßensein, wieder im Leben und in der Menschen Achtung herzustellen.“

„Du hast viel gelitten, Emilie! Ich sehe, ich fühle es!“

„Furchtbar, Mutter! Noth und Elend jeder Art hat uns heimgesucht; wir haben es aber treulich mit einander getragen. Auch Gewissensqual wegen unserer thörichten Handlungsweise lag schwer auf uns, aber in unserer ausharrenden Liebe fand sich eine große Hülfe. Glauben Sie mir, theure Mutter, es war eine Schule des Lebens, die Ihrer leichtsinnigen Emilie genützt hat.“

Die Rückkehr der hübschen und beliebten Frau von Werthern aus dem Lande des Todes rief in Weimars höheren Gesellschaftskreisen einen wahren Sturm der Aufregung hervor.

Der Herzog stürzte wüthend über die Komödie, welche man ihm gespielt, zu Goethe, ließ diesen kaum zu Worte kommen und schalt aus den unerhörten Betrug, welchen man sich gegen ihn erlaubt habe.

„Schade,“ erwiderte endlich Goethe mit voller Ruhe, „daß in dieser platten Werkeltagswelt nichts Außerordentliches mehr zu Stande gebracht wird.“

Karl August stutzte.

„Wie, Du verteidigst die Landstreicherin?“

„Ich meine nur, daß mein lieber gnädiger Herr, der allem Abenteuerlichen so hold ist, seine Freude an dem Streiche der beiden Leutchen haben müßte, die, wie Werthern’s Ehe beschaffen war, im Grunde nichts Klügeres thun konnten.“

Der Herzog lachte und gab nach einigem Hin- und Herreden dem Freunde Recht. Aber dieser wollte noch mehr.

Moritz von Einsiedel, der Goethes Interesse für das Bergfach sowie seinen Einfluß kannte, hatte ihn früh Morgens aufgesucht, ihm alle Verhältnisse mitgetheilt und ihn um seine Verwendung beim Herzoge gebeten. Einsiedel galt von jeher für einen tüchtigen und pflichttreuen Beamten, so betrachtete Goethe seine Wiederanstellung als Gewinn und zauderte nicht, dieselbe bei seinem fürstlichen Freunde zu befürworten.

Es gelang ihm auch, den Herzog milder zu stimmen und demselben endlich die Ueberzeugung zu geben, daß Einsiedel’s Wiederaufnahme nicht völlig zu verwerfen sei; damit war vorläufig genug erreicht.

Karl August forderte den Freund zu einem Spaziergange auf. Es war ein herrlicher Nachmittag, die Geselligkeit ruhte heute, morgen sollte die Generalprobe für „Den Triumph der Empfindsamkeit“ stattfinden und dann übermorgen, am 22. August, die Heimkehr der Herzogin Mutter mit dem Spiel gefeiert werden.

Man schlenderte unter lebhaftem Gespräche dem Parke zu, erfreute sich am Gedeihen der neuen Anpflanzungen, plante Weiteres und kam endlich an die Ilm, deren feuchten, kühlen Duft man an dem warmen Tage wohlthuend empfand.

Da sahen sie plötzlich mehrere Parkarbeiter und Mühlknechte in der Nähe des Wehrs zusammeneilen, ein Kahn stieß vom Ufer, man hantirte mit Stangen und hob endlich einen Körper in den Nachen.

„Das scheint ein Ertrunkener!“ rief der Herzog.

„Ich glaube, es ist eine Frau, ich sah ein weißes Kleid,“ entgegnete Goethe, während Beide ihre Schritte beschleunigten, um zur Stelle zu gelangen.

Die Männer hoben eben Christel von Laßberg’s schlanke, leblose Gestalt an das Ufer und legten sie auf den Rasen.

„Großer Gott, ist sie todt? Wie ist das Unglück geschehen?“ rief der Herzog.

Goethe knieete zu ihr nieder, legte sein Ohr an ihren Mund, versuchte seinen Odem zwischen ihre kalten Lippen zu blasen, lauschte auf ihren Herzschlag, untersuchte ihren Puls, rieb ihre Hände, hielt sie ausgerichtet im Arme und that Alles, um sie wieder zu beleben.

„Geben Sie sich keine Mühe mit ihr, Herr,“ sagte ein alter Parkaufseher, der dazu trat, sie liegt schon seit gestern Abend darin und muß festgehakt sein, sonst wäre sie weiter getrieben. Als ich spät meine Runde machte, sah ich eine weiße Gestalt durch die Büsche fliegen, sie verschwand hier am Ufer – es hätte mir fast gegraut. Es war zu dunkel, um etwas im Wasser zu erkennen, dachte auch, ich könne mich geirrt haben, aber heute Morgen fand ich diesen seidenen Stöckelschuh, da wußte ich, daß es eine Vornehme gewesen, die ich gestern Abend hatte laufen sehen.“

„O, wenn ich doch etwas später hier gebadet hätte!“ rief Goethe bewegten Tons, „dann würde ich sie gerettet haben. Ja, sie ist todt!“

Der Herzog stand daneben, und die Arbeiter zogen sich ehrfurchtsvoll zurück.

„Welch ein süßes Geschöpf sie war!“ fuhr Goethe fort, ihren bleichen Kopf noch immer im Arme haltend. „Mir däucht, wir haben, als sie lebte, den Reiz dieses Mädchens nie so erkannt, sie gleicht einer geknickten weißen Rose.“

Der Herzog flüsterte: „Sie war Braut des Grafen Wrangel, die Hochzeit sollte in diesem Monat noch gefeiert werden; der Bräutigam wird sich doch keiner Treulosigkeit schuldig gemacht haben? Denn hier liegt offenbar Selbstmord vor.“

„Sie tragt ein Buch in ihren Gürtel geschoben, es ist fest mit einem Seidentuche umwunden, wir wollen es an uns nehmen; wenn sie fortgetragen wird, möchte es herab fallen, vielleicht findet sich hier schon eine Aufklärung.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 790. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_790.jpg&oldid=- (Version vom 10.3.2023)