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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Schiller und das Publicum der Gegenwart.[1]

Von Rudolf von Gottschall.

Hundertfünfundzwanzig Jahre sind verflossen, seitdem Schiller, der Lieblingsdichter unserer Nation, das Licht der Welt erblickte, und fünfundzwanzig Jahre, seitdem Deutschland das große Fest zu seinen Ehren feierte, welches als der Ausdruck einer einmüthigen nationalen Gesinnung im Festkalender unseres Volkes eine hervorragende und dauernde Stelle verdient. Fünfundzwanzig Jahre – es ist für den Nachruhm eine kurze Frist – und doch können sie das Bild eines Dichters in eine veränderte Beleuchtung rücken; es muß offen eingestanden werden: ein Dichterfest, wie dasjenige des Jahres 1859, wäre in heutiger Zeit nicht mehr möglich, und wenn man jenes Fest oft mit den Panathenäen der olivenumkränzten Ilissosstadt verglichen hat, so würden im Festzuge einer heutigen Schiller-Feier zwar nicht die Jungfrauen fehlen, wohl aber die Kriegsmänner und Volksführer; denn der Lorbeer des Kriegers hat seitdem den Lorbeer des Dichters abgelöst.

Fünfundzwanzig Jahre – doch welche Fülle weltgeschichtlicher Ereignisse in diesem kurzen Zeitraume, welche Schlachten und Siege! Ueber die Meerenge von Alsen flog der Preußenaar und trug Nordalbingiens deutsche Lande dem deutschen Reiche zu; auf den Hügeln von Königgrätz wurde die große Entscheidungsschlacht geschlagen, welche Oesterreich aus dem Verbande der deutschen Staaten löste; bei Metz rang drei Tage hindurch Volk mit Volk auf der blutigsten Wahlstatt der Neuzeit, bei Sedan wurde ein Kaiser geschlagen und gefangen. Die Weltstadt Paris, die Königin der Städte, mußte sich den deutschen Truppen ergeben, und mehr als dies Alles – ein deutsches Reich wurde begründet, und die Krone der Staufen wanderte auf das Haupt der Zollern.

Diese letzten fünf Lustra bilden eine Epoche deutscher Geschichte, ruhm- und thatenreicher, als jede andere – und mögen die Ereignisse den Mitlebenden noch weiter aus einander liegend erscheinen, für die Nachwelt werden sie enger zusammenrücken und mit vermehrtem, blendendem Glanze wirken.

Der Ruhm der Fürsten, der Feldherren und Staatsmänner steht glänzend auf diesem Piedestal großer Thaten; erheben sich doch überall auch unter rauschendem Volksjubel die Denksäulen derselben. Da muß die Dichtung in den Hintergrund treten und der Oelzweig von Olympia verschwindet gegen den Lorbeer der Thermopylen.

Freilich, ein festbegründeter Dichterruhm kann durch nichts erschüttert werden; doch können immerhin vorüberziehende Wolken das Licht der Sterne verdunkeln. Zwar sind bald wieder anderthalb Jahrzehnte seit den großen Kriegsjahren verflossen: doch diese haben der nächsten Folgezeit ihr unverkennbares Gepräge aufgedrückt.

Von Jahr zu Jahr heftiger wurde der Kampf der politischen Parteien im neubegründeten deutschen Reiche. Die Parteiführer und Redner beschäftigten das allgemeine Interesse; es war ein geistiger Schwerpunkt in die Parlamente gelegt. Und dabei traten die Principienfragen immer mehr zurück, die Interessenfragen immer mehr in den Vordergrund. Die Politik wurde praktischer, aber auch prosaischer.

Es giebt ohne Frage eine berechtigte politische Lyrik, und sie hat zu allen Zeiten geblüht; auch unsere Lyrik der vierziger Jahre hat echte poetische Blüthen gezeitigt; doch eine solche Dichtung gedeiht eben am besten in einer Epoche feurigen Aufschwungs unbestimmter Ahnungen, zukunftsfreudiger Hoffnungen: so war es in jenen denkwürdigen Jahren, welche der Märzrevolution vorausgingen; da waren die Dichter Propheten, und sie prophezeiten in der That Vieles, was später eingetroffen ist.

Diese prophetische Ader besaß auch Schiller, besonders der „Dramatiker“ Schiller; als solcher war er ein großer politischer Dichter. Die kommenden Ereignisse warfen in seine Dichtungen ihren Schatten oder, wenn man will, ihren Feuerschein. „Die Räuber“ waren auf deutscher Erde die Vorboten der französischen Revolution – diese Roller, Schweizer und Schufterle konnte man in den Jacobinerclubs wiederfinden, und Karl Moor selbst war wie eine Verkörperung des revolutionären Genius, der aus gekränktem Rechtsgefühle zur Fackel der Vernichtung greift und vor blutigen Gräuelthaten nicht zurückschreckt. Es war kein Zufall, daß der Convent den Dichter der „Räuber“ zum französischen Ehrenbürger machte und daß dies Actenstück die Unterschrift Danton’s, des gewaltigen Anstifters der Septembermorde, trug; es war die Anerkennung einer Thatsache: der geistigen Verwandtschaft zwischen dem Jacobinerthum auf dem Pariser Straßenpflaster und dem Jacobinerthum in den böhmischen Wäldern. Der innere Kampf des Helden Fiesco erschien wie ein Vorbild jenes Kampfes, der den Helden des 18. Brumaire, den Republikaner von gestern, wenn auch nur auf kurze Zeit bewegte: beide traten die Republik mit Füßen und beide streckten die Hand nach der Krone aus.

Und noch einmal spiegelte die deutsche Muse den Helden der französischen Geschichte: es war der Kriegsfürst Wallenstein, mächtig wie der Kriegsfürst Napoleon, alles Volk in seinen Lagern sammelnd und an seinen Stern glaubend wie dieser. Und schon war in diesen Sternen der Zusammenbruch seiner Herrlichkeit geschrieben; der Geist nationaler Unabhängigkeit und Freiheit sollte sie stürzen – wo aber hat der kampfesmuthige Volksgeist, der sich gegen die fremden Unterdrücker wendet, einen begeisterteren Ausdruck gefunden, als in Schiller’s „Jungfrau von Orleans“ und „Wilhelm Tell“?

Gewiß, es war ein geniales Vorschauen der Zukunft in des Dichters Werken ausgeprägt, und sie wurden ein bewegendes Ferment in dem Aufschwunge deutscher Nation. In einer Epoche ähnlicher Krisen und ähnlicher Begeisterung werden sie, wenn auch der Zauber so unmittelbarer Wirkung nicht wieder erreicht werden kann, doch von Neuem mächtig das Herz der Nation bewegen. In stiller Zeit, in einer Zeit praktischer politischer Arbeit, heftiger Interessenkämpfe und vielfacher Verstimmungen und Enttäuschungen wird jener Dichtung die gesammelte Kraft der Wirkung fehlen.

Wie oft hört man die Klage: „die Zeitung hat das Buch verdrängt!“ Das Neueste, was die Zeit bringt, schafft eine willkommene, oft fieberhafte Erregung und außerdem kann jeder selbstthätig in die Debatte eingreifen; als Wähler ist er nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, eine eigene Meinung zu haben, und was er an der Wahlurne vertritt, wird er auch sonst im Leben zu vertheidigen suchen. Diese leidenschaftliche Theilnahme an der Tagespolitik wird durch die Zeitung genährt: es ist zweifellos, daß Viele nur noch Zeitungen und keine Bücher mehr Lesen; die Vertiefung in ein Buch ist weit seltener geworden als früher. Damit hat die Theilnahme für die Dichtung eine unbestreitbare Schädigung erfahren; natürlich leidet darunter die neuere Dichtung, die sich erst Bahn brechen will, am meisten; aber auch der Cultus der Classiker, auch derjenige Schiller’s, hat eine Einbuße erlitten. Die zahlreichen wohlfeilen Ausgaben der Neuzeit machen es zwar fast jedem Haushalte möglich, seinen Schiller zu besigen; aber wie oft und wie viel dieser Schiller gelesen wird, das ist eine andere Frage.

Die Politik der großen Perspectiven wird stets in Schiller noch ihren Dichter finden; aber die alltägliche Gewohnheitspolitik mit ihrem Bedürfnisse augenblicklicher Erregung, die Kirchthurmspolitik hat so viele Geister ausschließlich in ihren Bann gezogen, daß sie dem Cultus der Musen durchaus entfremdet sind.

Und wie die Tagespolitik, so hat auch der veränderte Zeitgeschmack der Schiller-Begeisterung einige Dämpfer aufgesetzt. Es ist ganz unmöglich, daß ein Jahrhundert vorüberrauscht, und zwar ein an Umwälzungen reiches Jahrhundert, ohne daß auch die Dichtung andere Wege einschlägt. Auch das Große und Schöne soll man nicht mumienhaft einbalsamiren, und thöricht wäre es, dem Flusse geistiger Entwickelung eine Schranke sehen zu wollen. Auch große Dichter tragen das Gepräge ihrer Zeit, und dem Unvergänglichen haftet allerlei Vergängliches an, das nicht mit dem gleichen Maße der Bewunderung gemessen werden darf. So war unserer classischen Epoche die Vorliebe für das Antike eigen, und die Gedichte Schiller’s sind an mythologischen Anspielungen und Bildern überreich. Obgleich das classische Alterthum für alle Zeiten ein Urquell echter Dichtung bleibt, so hat sich doch die Muse der Gegenwart von solchen Anlehnungen frei gemacht und mehr auf ihre eigenen Füße gestellt.

Käme eine solche übermäßige Verwendung der antiken Zierrathe in neueren Gedichten vor, so würde das Publicum daran

  1. Vortrag, gehalten am 10. Nov. 1884 bei der Schiller-Feier in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 793. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_793.jpg&oldid=- (Version vom 29.10.2022)