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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 49.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Das Urbild des Fidelio.

Erzählung von Ernst Pasqué.
(Fortsetzung.)


Wüthend vor Zorn über die nicht erfolgte Verurtheilung des Grafen René geleitete Le Borgne seinen Gefangenen über den Hof, und seine wüsten Drohreden und Flüche verstummten erst, als er in der Kirchenruine verschwunden war. Pujol lachte hinter ihm drein, und die Anderen, welche durch die Wuth Le Borgne’s belustigt wurden, machten es ebenso.

Nur zu bald kehrte Letzterer zurück, und noch immer voller Zorn, Flüche und Schmähungen auf den Lippen, begann er die Speisen, den Inhalt eines Kruges, den Pujol ihm lachend und ihn neckend dargereicht hatte, mit begieriger Hast zu verschlingen. Nach einer Weile, und als der schwermüthige Sang Margot’s forttönte, schrie er wild auf:

„Zum Teufel mit dieser langweiligen Singerei! Die Dirne soll hervorkommen und uns die Carmagnole vorsingen!“

Die andern Sansculotten stimmten unter Lachen und Lärmen ein und trieben Pujol an, seine Nichte, oder Enkelin – seine Magd, oder sein Liebchen – wie sie Margot unter frechem Höhnen nannten, herbeizuholen. Der Alte durfte sich nicht weigern, er trat sogleich in seine Wohnung, doch erst nach einer Weile kehrte er mit Margot zurück, die sich dem Vorschlag wohl erst nach einigem Zureden gefügt haben mochte.

„Sing’ uns die Carmagnole, Dirne,“ herrschte Le Borgne ihr zu, seine Stimme anstrengend, um die lärmenden Reden seiner Gefährten zu übertönen, „und wir tanzen dazu der Reihe nach mit Dir – wenn wir dafür fest genug auf den Beinen sein werden. – Haha!“

„Ich kenne das Lied, welches Ihr da nanntet, nicht,“ entgegnete Margot im Ton und Dialekt der Landleute der Umgegend von Tours, Le Borgne dabei mit ihren großen Augen fest und furchtlos anschauend.

„Ah! Du bist die Nichte – oder Geliebte eines alten Sansculotten, des wackeren Henkers von Tours und kennst die Carmagnole nicht?!“ rief Le Borgne, vor Staunen den Krug, aus dem er eben hatte trinken wollen, wieder von den Lippen absetzend, und die Anderen schrieen durch einander: „Unerhört! – Wo bist Du denn aufgewachsen? – Gewiß nur unter Aristokraten und nicht unter echten Sansculotten!“

„Stille!“ brüllte Le Borgne. „Ist Dir die Carmagnole bis heute fremd geblieben, so wirst Du doch unser ‚Ça ira‘ kennen! Das singe!“ Und er schnarrte: „‚Ça ira! ça ira! les aristocrates à la lanterne!‘ – Doch dieses schöne Lied kennst Du wiederum nicht, wie ich sehe. Konnte es mir denken! Pujol – Pujol! was hast Du Dir da für ein aristokratisches Schätzchen mit heimgebracht!“

„Margot ist in der Einöde auf dem Lande aufgewachsen, wohin die Segnungen der Revolution noch nicht gedrungen sind,“ entgegnete Pujol, auf den Ton des Andern eingehend. „Deshalb nahm ich sie mit mir, um hier ihre republikanische Erziehung zu vollenden. Doch nach dem, was ich jetzt an ihr erlebe, fürchte ich, daß meine Kraft nicht ausreichen wird, und ich will sie lieber wieder mit ihrem alten Großvater heimschicken, der heute Abend kommen wird.“

„Was verstehst Du denn zu singen, kleine braune Hexe?“ fragte Le Borgne, den lauernden Blick verstohlen, doch scharf auf Margot gerichtet.

„Tanz- und Trinkliedchen kennt sie ganz gewiß,“ antwortete Pujol für die Angeredete, und mit sprechender Geberde, rauh und befehlend herrschte er Margot zu: „Singe uns ein Lied vom Wein, sogleich! Oder ich treibe Dich jetzt schon aus meinem sansculottischen Paradiese hinaus!“

„So ist’s recht! Singe und wir trinken dazu! Ça ira!“ riefen die würdigen Patrioten lärmend und lachend durch einander. Margot besann sich nur wenige Augenblicke, dann sang sie frei heraus, mit kräftiger Stimme und sogar mit einer trotzigen Fröhlichkeit:

„Wer einsam schlürft den goldnen Wein,
Begeht gar große Sünde.
Nur unter Freunden schenket ein,
Daß Glas zu Glas sich finde.
      Stoß an! stoß an!
      Trink zu, Cumpan!“

Das Lied, wenn auch veraltet und durch die rohen Gesänge der Revolution verdrängt, mußte den Sansculotten von Tours doch bekannt sein, denn sie wiederholten lustig den Refrain und thaten auch, was dieser erheischte. Mit größter Geschäftigkeit eilte der alte Pujol von der Gruppe der Zechenden zu seinem Faß und wieder zurück, stets die Krüge auffüllend und zum Trinken anfeuernd. Ein abermaliges und vollständiges Betäubtwerden der rohen Gesellschaft konnte nicht ausbleiben, es mußte sogar recht bald erfolgen.

Der Abend war mittlerweile gekommen, seine Dämmerung begann den Hof und die ruinenhaften Bauwerke ringsum einzuhüllen, und vor dem großen Eingangsthor war schon seit einer Weile ein Gebrause von Stimmen hörbar geworden. Da raunte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 797. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_797.jpg&oldid=- (Version vom 11.10.2022)