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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 50.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.



Am Abgrund.
Von W. Heimburg.


Wir saßen wie allabendlich im Gastzimmer zur „Goldenen Sonne“ in dem kleinen Honoratioren-Stüblein am Stammtische, aber die rechte Stimmung wollte uns nicht kommen. Wir waren soeben von einem Begräbnisse zurückgekehrt; in unseren Ohren mochte noch immer der dumpfe Fall der Erdschollen nachtönen, die auf den Sarg hernieder gerollt, in welchen sich ein junges Menschenkind gelegt, freiwillig gelegt, als sei es geflüchtet aus diesem Leben mit all seinen tausendfältigen Variationen von Kummer und Herzeleid. Er war ein guter Freund von uns gewesen, hatte bis vor wenig Tagen hier am Tische mit uns gesessen, und Niemand hatte ihm den grausen Entschluß von der Stirn gelesen. Vor wenigen Wochen erst war er ein Verlöbniß eingegangen mit einem braven wohlhabenden Mädchen aus hiesiger Stadt; er, der Sohn nicht unbemittelter Eltern, – was konnte ihm, dem in anscheinend so geordneten glücklichen Verhältnissen lebenden Menschen, die Waffe in die Hand gedrückt haben? Man verläßt doch am Ende seinen Posten nicht ohne zwingende Gründe!

Schon oft in diesen Tagen war jene Frage aufgeworfen worden, und Keiner hatte sie zu beantworten gewußt. Auch jetzt fand man die Lösung nicht.

Wir waren Alle noch jung; der Aelteste von uns mochte vielleicht dreißig Jahre zählen, er war Arzt; zwei Andere bekleideten Lehrerstellen am fürstlichen Gymnasium. Ich, der Jüngste unter ihnen, lebte erst seit einem Jahre in dem thüringischen Städtchen, wo ich als Techniker die Bahnbauten zu leiten hatte.

„Haben die Herren noch nie gehört, daß Jemand in den ordentlichsten, respectabelsten Verhältnissen zu Grunde gehen kann?“ fragte plötzlich eine leise Stimme. Ein alter Herr, der regelmäßig am Nebentische seinen Platz einnahm, hatte sich erhoben und legte seine Hand auf die Schulter des Arztes, der ihm zunächst saß.

Uns war er fast ganz fremd, der alte einsame Mann, obgleich er täglich in demselben Zimmer zur „Sonne“ neben uns seinen Schoppen trank. Ich kannte ihn unter dem Namen Doctor Johann Rüdiger und wußte, daß er in der Zimmergasse ganz allein ein stattliches Haus bewohne, dessen Garten an den fürstlichen Schloßpark stieß und als ein kleines Wunderwerk geschmackvollster Anlage gerühmt wurde. Im Uebrigen galt er für einen Sonderling; er sprach selten, pflegte gar keines Umganges, und unser Verkehr hatte sich bis jetzt nur auf einen achtungsvollen Gruß von unserer Seite beschränkt, welcher von ihm mit der formellen altmodischen Höflichkeit einer längst vergangenen Zeit erwidert wurde.

Man sagte ihm nach, er besitze werthvolle Sammlungen und sei ein grundgelehrter Kauz, – das Volk nannte ihn „überstudirt“. Er war ein Arnsteiner Kind, hatte aber lange Zeit im Auslande gelebt; mehr wußten wir nicht von ihm, die wir Fremdlinge in diesem Lande waren.

Heute Nachmittag nun war er dicht hinter dem Sarge hergeschritten, just als wollte er die Stelle des Geistlichen vertreten, der dem Selbstmörder seine Begleitung versagte, und er hatte es auch gewissermaßen gethan; denn nachdem ein dem Verstorbenen nahe stehender Herr ein paar bewegte Worte gesprochen, war er an die Gruft getreten und hatte mit lauter Stimme ein „Vaterunser“ gebetet, wobei er absonderlich betonte: „Und vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.“

Wir wußten, er hatte den Verstorbenen nicht näher gekannt; um so mehr gewann er unsere Sympathie, und Einer nach dem Andern waren wir hinzu getreten, ihm die Hand zu drücken.

Jetzt stand er plötzlich vor uns, und aus seinem blassen anziehenden Gesichte sahen die noch jugendlich klaren Augen still fragend zu uns herüber.

„Verzeihung, meine Herren; mich interessirt der Heimgegangene mehr, als Sie vielleicht ahnen.“

Der Arzt hatte einen Stuhl herbeigezogen und das Seidel des alten Herrn auf unsern Tisch gestellt. Nun saß er zwischen uns, als wäre es nie anders gewesen.

„Ich meine, daß Kränklichkeit ihn in den Tod getrieben,“ sagte Doctor Werner, einer der Lehrer.

„Unsinn!“ erwiderte der Arzt. „Ein gesunder Kräutlein ist nirgends gewachsen. Nein, diesmal hat Ihre Pathognomik in’s Blaue geschossen – er war kerngesund.“

Der alte Herr nickte mit dem Kopfe. „Kerngesund!“ wiederholte er halblaut.

„Wer weiß, was da faul war im Staate Dänemark?“ meinte der College vom Gymnasium. „In solchen Geschäften hängt’s oft an einem Haar, besonders bei den jetzigen bewegten Zeiten; hat sich doch schon Mancher vor einem Bankerott – –.“ Er machte einen Griff nach der Kehle.

„Ei behüte!“ widersprach der Arzt. „Das Geschäft steht bombenfest! Und jetzt, wo er mit der Verheirathung ein kolossales Vermögen hereingekriegt hätte – – Nein, wissen Sie, meine Herren,“ und er sprach leiser, „er war ein kleiner Schwerenöther, hatte irgendwo hier herum eine etwas ernste Liebschaft und – das Frauenzimmer wird Lärm geschlagen haben, als er sich anderweit verlobte – so habe ich wenigstens gehört.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 817. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_817.jpg&oldid=- (Version vom 10.10.2022)