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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

da ich Stimmen hörte, auch weiter in den Garten, von wo sie mir entgegenschallten. Dort, an der Hofthür steht eine kleine Steinbank – sehen Sie, es ist dieselbe noch unter dem nämlichen Hollunderbaum – weiter kam ich nicht, denn durch die Büsche erkannte ich in ihrem Fahrstuhl die Fürstin, und eine zweite Dame als ihr junges Hoffräulein, Baronesse von Rettberg, die unter dem Namen ‚die schöne Rosa‘ im ganzen Städtchen bekannt war. Den Magister sah ich nicht, aber ich hörte ihn bald – er las.

Mein Lebtag werde ich nicht vergessen, welch eine Fülle von Licht und Wonne in das dürstende Kinderherz fiel, wie Musik umschmeichelte es mich; ach, so etwas hatte ich nimmer geahnt. Meine Mutter hielt wohl nie in ihrem Leben ein Buch in der Hand, außer Bibel, Gesangbuch und Kalender; mein Vater las das Wochenblatt und eine größere Provinzialzeitung, das war schon ungeheuer viel. Wir Kinder lernten auch in der Schule Gedichte hersagen, aber es waren meist Kirchenlieder oder lehrreiche Parabeln aus dem Kinderfreund, und es hatte sich noch nie etwas gerührt in mir, wenn ich lernte: ‚Ein Knabe aß wie viele Knaben die Datteln für sein Leben gern.‘ Aber jetzt –

‚Es stand in alten Zeiten, ein Schloß so hoch und hehr,
Weit glänzt es über die Lande, bis an das blaue Meer –‘

das war kein Sprechen mehr, das war wirklich Musik.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen, nachdem er geendet; der Fürstin Rollstuhl war längst mit leisem Knirschen durch den Garten geschoben und in dem Pförtchen der Mauer verschwunden, leichte Dämmerung war herniedergesunken, ich saß noch immer da, bis der Magister mich verwundert fragte, was ich wolle, und, kinderfreundlich wie er war, sich mit mir in ein Gespräch einließ.

Zugehört hätte ich, gestand ich endlich, und es sei so schön gewesen!

Da ich ging, schieden wir als Freunde, und Uhland ist immer mein Lieblingsdichter geblieben.

Was Wunder, daß ich an gar nichts weiter dachte und daß des Magisters Name über meine stammelnden Lippen kam in jenem Augenblicke. Dieser Vorgang, die Frage der Mutter und meine Antwort, hatte dennoch Folgen für mich. Nach einer Familienberathung, in der mein Pathe, der Bürgermeister, den Vorsitz führte, wurde kurz nach jener Zeit beschlossen, daß ich studiren solle. Meine Mutter eröffnete mir dies, aber wohlweislich erst nachdem der Jahrmarkt vorüber, während dessen wir Brüder tüchtig im Laden helfen mußten. Vielleicht bin ich noch zerstreuter als sonst gewesen, denn wenn eine Bauerfrau einen rothen wollenen Unterrock begehrte, so dachte ich beim Anblick des Purpurs an den furchtbar prächtigen König, und bei dem sanften Himmelblau, das die junge Küstersfrau zu einem Pathenkleidchen verlangte, an die muthmaßliche Farbe des Gewandes der schönen Königin, die so süß und mild gewesen, ‚als blicke der Vollmond drein.‘

Ich war entschieden noch schlechter im Geschäfte zu gebrauchen, als gewöhnlich, aber ich bekam weder Schelte noch Ermahnung.

Zwei Tage später war der feierliche Moment, wo mir gesagt wurde, daß ich von Ostern ab das Gymnasium besuchen werde, um, meinem Wunsche gemäß, zu studiren. Glauben Sie mir, mein junger Freund, das war der seligste Tag meines Lebens!

Wie ich den Herrn Pathen gegen Abend im bedächtigen Schritt über den Markt kommen sah, wie meine Mutter ihn in das Putzzimmer führte, das im ersten Stock des Hauses sich befand, wie der Vater den Fritz rief und ihn hinter den Ladentisch stellte mit dem Befehl, daß man ihn nur rufen solle, wenn etwas ganz Wichtiges verlangt werde; wie dunkle Gewitterwolken über den Schönauer Bergen aufstiegen und die goldnen Kreuze der Marienkirche so blinkend von dem blauschwarzen Hintergrund sich abhoben – das hörte, sah und fühlte ich Alles dort oben auf unserer Giebelstube, in welcher der Fritz und ich hausten. Ich stand am Fenster, und mein Herz klopfte schwer und bang, ich weiß nicht, ob es die drückende Schwüle draußen machte oder die Erwartung von dem, was da kommen sollte.

Der Vater rief mich endlich in das Gemach, und dort stand ich eine Weile stumm an der Thür, bis die fette Stimme des Oheims nach mehrmaligem Räuspern also sprach:

‚Nun, Hans, mein Sohn, so laß Dich denn an die Krippe der Weisheit führen und verdirb Dir den Magen nicht mit dem Mengefutter der griechischen und lateinischen Gelehrtheit, möge sie Dir im Gegentheil wohl bekommen!‘

Er lachte über seinen Spruch, daß ihm das Bäuchlein wackelte, und trank sein Glas Franzwein aus. Der Vater aber nahm mich bei der Hand, strich mir über das Haar und sagte: ‚Bedank’ Dich beim Pathen, er hat Dir das Wort geredet gegen die Mutter; wär’s nach ihr gegangen, so –‘

Die Mutter schwieg; sie sah mich bekümmert an, als sei ich ein schier verloren Schäflein. ‚So ein dummer Junge!‘ sprach sie endlich.

Als ich dem Herrn Bürgermeister die Hand gegeben und dann zu ihr trat, setzte sie hinzu: ‚Hoffentlich gereut’s Dich nie, Hans. Nun kannst Du laufen!‘ Und ich lief; im Hause hätt’s mich nimmer gelitten.

Menschenleer waren die Gassen, schwer und dumpf die Luft; ich eilte, als gelte es noch vor dem Unwetter das schützende Dach zu erreichen. In stürmischer Hast drückte ich die Thür zu des Magisters Hause auf, just als der erste falbe Blitz vom Himmel herniederzuckte, und athemlos stand ich vor ihm, der, aus dem Garten kommend, eben durch den Hausflur schritt und mich nun lächelnd und verwundert betrachtete.

Er mußte mir drinnen im Zimmer Alles abfragen – erzählen, berichten konnte ich nicht. Er saß mir gegenüber im tiefen Lehnsessel an dem mit Büchern und Papieren bedeckten Tisch, der Himmel draußen war so finster, daß sein mildes blasses Antlitz das einzig Lichte in dem dämmerigen Gemach erschien, und er sprach. Er sprach von der Wissenschaft, wie sie den Menschen veredle und erhebe, er sprach von den Wundern, die mir num erschlossen werden sollten, ‚von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt,‘ er sprach von allem Hohen, was Menschenherz erhebt! Und draußen rauschte der Regen zur Erde und durch die offene Thür quoll ein wundervolles Duften in das Gemach. Nie, niemals werde ich das vergessen! Ich hatte an seiner Hand den ersten zaghaften Schritt in das Land meiner Sehnsucht gethan.

Er strich mir lächelnd über die Wange, als er sich endlich erhob, und sagte, daß ihn die Fürstin erwarte; und er ging zu einem der hohen Schränke und drückte mir dann ein kleines Buch in die Hand. Eine Perle nannte er es, unter dem, was Menschengeist erschaffen, ein Werk, das ich jetzt freilich noch nicht verstehe, und an ihn solle ich denken, wenn ich dereinst mich in dieses Meer von Schönheit versenkte.

Und ich ging, das Buch in der Hand. Unter dem letzten tröpfelnden Regen wanderte ich durch die Lindenalleen, die unser Städtchen umschließen; mir war zu Muthe wie trunken. Vor dem Gymnasium blieb ich stehen und schaute zu den alten grauen Mauern hinauf in schweigender Andacht, und Homer’s Odyssee hielt ich fest an mein klopfendes Herz gedrückt.

Und die Kindheit verging unter eifrigem Lernen und dem Streben, das Versäumte nachzuholen, und das Jünglingsalter brach an. Alltäglich verlebte ich glückliche Stunden in diesem Hause, noch heute gedenke ich mit Freuden ihrer, dort drinnen, im behaglichen Zimmer, wo wir den Olymp mit all seinen Göttern und das ganze classische Griechenland um uns zu versammeln pflegten. Ich höre noch die milde Stimme des alten Mannes, mit der er jene wunderbare Sprache redete – ich sehe seine blauen leuchtenden Augen, und ich sehe sein mildes Lächeln, mit welchem er meine Verse überlas, die ersten, die ich gedichtet und die ich ihm verstohlen auf den Arbeitstisch gelegt hatte.

‚Hans, mein Sohn, was weißt Du von solchen Dingen, was weißt Du von Frauenschönheit?

‚Nicht der Grazien Reiz, nicht Eos’ strahlender Schönheit,
Nein! – Die Palme gebührt Rosa, der Herrlichen, nur!‘

Hans, mein Sohn, soll ich das dem Fräulein von Rettberg vorlesen?‘

Ja, die schöne Hofdame der Frau Fürstin war meine erste heiße wunschlose Schwärmerei. Kein Wunder, daß ich vor Entzücken fast taumelte, als mich einstmals der Herr Magister mit in das Schloß hinüber nahm, damit ich – er war plötzlich heiser geworden – der hohen Frau einige Capitel aus Walter Scott’s neuestem Roman vorlese. Das blasse stille Antlitz der Fürstin, das hohe, mit Bildern und Portraits fast tapezirte Gemach, das flackernde Kaminfeuer mitten im Sommer, die grünen schwankenden Lindenzweige vor den Fenstern und endlich die schlanke Mädchengestalt am Stickrahmen, so vornehm in jeder Bewegung, ihre tiefen traurigen Augen – das ist eine jener Erinnerungen, die mir nie erblaßten; ich war siebenzehn Jahre damals, Herr Baumeister.“

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 822. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_822.jpg&oldid=- (Version vom 27.12.2022)