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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Das Kunstleben in meiner Vaterstadt zog mich zuerst zum Theater hin. Ich vermochte äußere Eigenthümlichkeiten der Menschen schnell zu erfassen und wiederzugeben; es wurde mir leicht, mich in eine fremde Seele hinein zu versetzen und in ihrem Sinne zu denken. Bei Liebhabertheatervorstellungen und Polterabendaufführungen gefiel mein Spiel. Ich wollte Schauspielerin werden und studirte einstweilen die Beatrix in „Viel Lärm um Nichts“ und, wenn ich in ernster Stimmung war, die Thekla im „Wallenstein“.

Aber wieder erklang in die bunten Träume, die diesmal von der glänzenden Bretterwelt erfüllt waren, die Weisung: du hast noch nicht die Hälfte deiner Lehrjahre hinter dir. Wenn es sich darum handelte, zu arbeiten, hat immer ein guter Stern über meinem Haupte gestrahlt. Das bewährte sich auch diesmal. Ein genialer Musiker, der ein Vorkämpfer der Wagner’schen Richtung in unserer Stadt war, ertheilte mir Unterricht, hauptsächlich in Theorie und Geschichte der Musik; zwei gelehrte Professoren, von denen der eine längst Director eines Gymnasiums in Preußen ist, der andere als Botaniker europäische Berühmtheit genoß, ließen sich herbei, mir die geistigen Schätze zu erschließen, welche die verschiedenen Völker bei ihrem Gang durch die Jahrtausende aufgespeichert haben. Vor Allem zog mich das Studium der reichen Flora meiner von herrlichen Buchenwäldern umrauschten Heimath an. Damals wünschte ich, wenn ich die braune Orchideen-Wurzel, die man Glückshand nennt, um die Johanniszeit grub, auf dem Gebiete der Wissenschaft ein Ziel zu erreichen. Doch bald fesselte mich mehr als die Erforschung der Pflanze das, was die Phantasie der Völker um dieselbe gesponnen hat. Es ließ mich gleichgültig, daß Linné die Eiche in die einundzwanzigste Classe seines Systems, Jussieu sie in die Familie der Näpfchenfrüchtler wies; aber ich freute mich daran, daß das deutsche Volk dem Baume die Treue länger als ein Jahrtausend gehalten hat: wie es ihn einst seinem stets mit dem Hammer dreinschlagenden Donar weihte, so schmückt es noch heutzutage den Orden für Muth im Felde mit Eichenlaub. –

Stefanie Keyser.
Nach einer Photographie von C. Festge, Hofphotograph in Erfurt.

Zu derselben Zeit wurde ich in die Welt und die Gesellschaft eingeführt. Ich durchwanderte mit meinem geschriebenen Heft pedantisch die Glyptotheken, Museen und Gemäldegallerien unserer großen Städte; es wurde mir aber erst wirklich wohl, wenn mir beim Anblick der Sixtinischen Madonna oder in Worms vor dem Luther-Denkmal Stift und Notizbuch aus den Händen sanken. In der Schweiz spähte ich zwar nach seltenen Pflanzen aus; aber als am Urner See die Worte „Schächen“, „Rütli“ an mein Ohr schlugen, vergaß ich die Alpenrosen; es war mir, als trügen mich weder Boot, noch Bergpferd, sondern die mächtigen Schwingen des deutschen Dichters, dessen Verse das Tell-Denkmal schmücken. Zu dem Wirbel der Nebelgestalten, die den Brocken umschwebten, mußte ich leise die wilden Reime aus Goethe’s Walpurgisnacht sprechen, und unter dem Thorbogen von Rolandseck, den das Gesumme der Klosterglocken von Nonnenwörth durchzog, klangen die wehmüthigen Liebesklagen Toggenburg’s in mir wieder.

Aber nicht nur die Freuden und Leiden längst vergangener Menschen interessirten mich, sondern ebenso sehr die mit mir im rosigen Licht athmende Generation, und ich verfehlte keine Gelegenheit, die unser heimisches Gesellschaftsleben bot, um mich mit diesem recht vertraut zu machen.

Es glitt sich ja auch so leicht auf dem glatten Parquet des Ballsaales in einem en avant deux dahin, und es war ein so großer Genuß, unsere berühmten Loh-Concerte zu besuchen, wo ein Nachtigallenchor die Vorträge unserer vorzüglichen Capelle ablöst, und wo ein buntes Bild sich entfaltet, in welchem weder die eleganten Herren und fächelnden Damen fehlen, die den Walkürenritt besprechen, noch der alte pensionirte Dorfschullehrer, der den weiten Weg macht, um andachtsvoll einer Mozart’schen Symphonie zu lauschen. – Und was das Beste war: vielen bedeutenden und liebenswürdigen Menschen gegenüber glaubte ich Doctor Faust’s Zauberkäppchen zu tragen; sie erschlossen mir ihre innersten Herzensthüren.

Mit sieghafter Gewißheit ging mir die Ueberzeugung auf, daß der Mensch das interessanteste Gebilde der Natur ist. Ich ließ die Pflanzen-Biographien, die ich ausarbeitete und auch glücklich durch einen vielgenannten wohlwollenden Schriftsteller in einer Zeitschrift unterbrachte, bei Seite und begann die Novellen- und Märchenstoffe, die mich umschwirrten, mittelst des alten Zaubersaftes Tinte auf das Papier zu bannen.

In dieser Zeit traf mich ein schwerer Schicksalsschlag. Mein heiß geliebter Vater wurde mitten aus rüstigem Wirken heraus – er war zuletzt Director des Kreisgerichts in Sondershausen – uns durch den Tod entrissen.

Nun sind schon zehn Jahre vergangen, seit ich ihm seinen Lieblingsbaum, eine Linde, auf das Grab pflanzte. Die kleinen bunt gefiederten Waldsänger aus unseren Buchenhallen, die er gern um sich hegte, flattern durch ihre grünen Zweige. – Andere schmerzliche Verluste folgten. Mein gütiger Großvater schloß für immer die Augen; theure Lehrer, liebe Freunde und Freundinnen mähte der Tod dahin. – Da war es die Arbeit, die mir über die schweren Zeiten hinweghalf, die mich davor bewahrte, in dem Schmerz zu versinken, die mich dem Leben zurückgewann.

Ich nahm die Feder wieder auf und schrieb rüstig weiter.

Aber auch ich habe die Erfahrung gemacht, daß es leichter ist, Erzählungen zu schreiben, als zu veröffentlichen. Ich mußte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 829. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_829.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2020)