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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Ein Weihnachtsgruß.

Von P. K. Rosegger.


Ueber der Waldlandschaft liegt eine starre, blasse Winternacht. Am Himmel steht der Mond, aber der Schnee auf den Fichtenbäumen flimmert nicht, denn der Mond und die Sterne sind durch eine matte Wolkenschicht verdeckt. In solcher Dämmerung sind die Höhenrücken und die Thäler und Schluchten nur unbestimmt zu sehen, hier ragen die schwarzen Zacken der Bäume schärfer auf, weiterhin verschwimmen die Umrisse der Berge und Bäume theils im Aether, theils im Schleier eines sachte beginnenden Schneiens.

Durch diese Nacht zittert ein Klingen. Es kommt von allen Seiten her, es ist, als ob die Schneeflocken in der Luft klängen. Es steigt von den Thälern herauf, wo Dörfer und Kirchen stehen, es sind die Glocken der heiligen Weihnacht.

Dort unter knorrigen Schirmtannen steht im Frieden des Waldes eine Hütte. Aus den niedrigen Fensterlein fällt noch Lichtschein wie eine rothe Tafel auf den Schnee hinaus. Drinnen am Tische sitzen zwei Menschen, aber nicht beisammen, sondern der eine dem andern gegenüber, wie sie vom Nachtmahle her eben sitzen geblieben sind. Seit Stunden sitzen sie da und sagen sich – einmal leiser, einmal lauter – gegenseitig alles Harte, Trotzige und Feindselige, das ihnen einfällt. Denn ein Ehepaar ist es, das sich erwählt hat, um sich einander mit Liebe, Geduld und Nachsicht das Leben tragen zu helfen. Keines hätte es besser treffen können mit seiner Wahl, denn Jedes ist unschuldig und fehlerlos und legt alle Schuld und Fehler auf das Andere. Was an Makel ist am Andern, was im Hauswesen fehl ging, was an den Kindern Schlimmes ist, was sonst Unangenehmes vorfiel – war es heute, war es vor Jahren, – Alles wird herbeigeholt und hin und hergeschleudert über den Tisch, nicht wie Spielbälle, sondern wie Steine, und Eins sucht das Herz des Andern scharf zu treffen; von Falschheit und Untreue ist die Rede, und von anderlei schönen Dingen, wie sie der Katechismus in den „sieben Hauptsünden“, in den „sechs Sünden im heiligen Geist“, und in den „vier himmelschreienden Sünden“ zur freien Wahl in Erinnerung bringt. Der Mann läßt mit Vorliebe seinen höhnenden Trotz spielen, fährt nur manchmal brausend auf, um dann wieder in die finstere Ruhe zu versinken. Die Gattin giebt sich heftig und rasch aus, und ist sie mit ihren Vorwürfen zu Rande, so beginnt sie wieder von vorne, daß es in der That zu hören ist, als nehme das Sündenregister des Ehemannes gar kein Ende. Sie zittert vor Wuth, oder sie schluchzt, wie es eben zum Texte paßt. Endlich haben sie sich so tief in das Elend hinein raisonnirt, daß sie den Tag verfluchen, an dem sie sich das erstemal gesehen, verfluchen ihre Ehe und alles Liebe und Gute, das sie sich gegenseitig angethan, verfluchen ihr ganzes Leben und segnen nichts, als das Grab, in das Eines vom Andern gestoßen zu werden vorgiebt. – Die Unschlittkerze ist durch den eisernen Schraubenleuchter hineingebrannt, ohne daß sie Eines emporgeschraubt hätte. Endlich verlischt das Licht und der Rest des Dochtes verglüht. Die zwei Leute – die Niemand haben auf der weiten Welt, als sich gegenseitig – fahren nun im Finstern fort, sich mit bitteren Vorwürfen zu quälen, bis die Müdigkeit ihre Leidenschaft betäubt und sie seufzend in den Schlummer sinken.

Draußen klingen fort und fort die Weihnachtsglocken leise und lieblich über das Gewipfel der Bäume hin. Ich bin ausgegangen, einen Christbaum zu suchen, aber in diesem Walde nehme ich ihn nicht. –

In einem stattlichen Herrenhause desselben Thales – doch lassen wir das, senken wir auf die Bilder des Weltunfriedens den Schleier dieser Nacht. Wenn wir unsern grünen Weihnachtsbaum in jenem Walde, in jenem Lande holen wollten, wo der Friede ist, den die Engel verkündigten, wir müßten darauf verzichten.

Und dennoch – welch eine wunderbare Erscheinung an diesem Tage! Wenn eines Tages am Himmel zwei Sonnen stehen, so ist das Wunder nicht größer, als jenes, das sich am Weihnachtsfeste vollzieht. Das ist ein Tag, an welchem von all den eigennützigen Menschen keiner an sich, jeder an Andere denkt. Einer den Anderen mit Freuden zu überraschen, mit Gaben zu überhäufen, das ist das Ziel dieses Tages. Es ist kalter Winter, Keinen friert, denn die Herzen sind warm. Es giebt heimliche Arbeit Tag und Nacht, Keiner ermüdet, Keinen hungert, die Liebe zum Mitmenschen stärkt und sättigt. Es ist, als ob die Naturgesetze andere wären, und fast bangt man um das Gleichgewicht der Welt, da so plötzlich alles in Freude ist, da so plötzlich die Allgewalt der Charitas herrscht. Wenn ich am Morgen des Weihnachtstages aufwache und mein Auge auf den Christbaum fällt, der in Erwartung der nahen Jubelstunde still auf dem weißgedeckten Tische steht, da werden mir die Augen feucht. O Weihnachtsfest, das du die Herzen der Menschen erweckest und mit himmlischem Maienhauch die Erde zum Heiligthum wandelst, sei gegrüßt! Sei gegrüßt, du göttliches, du unbegreifliches Weihnachtsfest !

Der heilige Abend und der Christtag! Zwei Tage haben wir im Jahre, an welchen die Liebe herrscht, die vor nahezu zweitausend Jahren der Heiland geoffenbaret hat. Wenn jedes neue Jahrtausend auch nur einen Tag der selbstlosen Liebe in das Jahr legt, so brauchten wir nur mehr dreihundertdreiundsechzig-tausend Jahre, bis die Erde – wenn sie so lange das Leben hat – ein Himmelreich ist.

Uebrigens, wenn manche Leute das, was sie für den „Himmel“ thun, ohne daß die Mitmenschen davon einen Vortheil haben, für diese Welt und ihre Bewohner üben wollten, wir kämen noch um ein Bedeutendes früher zum heißersehnten Reiche Gottes auf Erden. – Der größte Fehler aber und das größte Hinderniß für eine bessere Zukunft ist, daß die meisten Leute so pessimistisch sind und an den göttlichen Keim im Menschen nachgerade aus Princip nicht glauben wollen. Mit Behagen wälzen sie sich in ihrem Thierbewußtsein, das Thier hat ja keine Pflichten, kein Gewissen, thut was ihm augenblicklich am besten taugt, und betrachtet als einzige moralische Aufgabe die, sich nicht erwischen zu lassen. Das ist hübsch bequem. Aber es wird ihnen nichts helfen. Besser wird’s doch, das ist gar nicht zu verhindern; nur ob es langsamer oder rascher geht, das ist Sache der Menschen.

Heute hört man Stimmen, das Abhauen von jungen Bäumchen zu sogenannten „Christbäumen“ sei wirthschaftlich zu verwerfen, man solle nur bedenken, welch ein Capital in solch jungem Waldwuchse vernichtet werde. Natürlich, das Capital, dem opfern wir Alles, Ehre, Friede, Gewissen, warum nicht auch das sinnigste und innigste Festzeichen der Familie, das höchste, reinste Glück unserer Kinder – den grünen Weihnachtsbaum! Kein Baum im deutschen Walde wird so hoch verwerthet, als das Wipfelchen, das wir auf unseren Weihnachtstisch stellen, aber – es trägt kein Geld ein. Für Geld verkaufen wir Alles. Jener alte, gichtbrüchige Geizhals wurde von einem Zauberer gefragt, ob er nicht sein jämmerliches Alter gegen blühende Jugend vertauschen wolle. Ja, wenn er sein Geld mitbekäme in die Jugend, meinte der Greis. Das eben nicht, sagte der Zauberer, Geld sei eine Sache des Alters; der Jugend Reichthum sei Gesundheit, Frohsinn, Zuversicht, Liebe. – Wenn ich, so sagte nun der Geizhals, mein Geld nicht mitnehmen darf in die Jugend, dann danke ich! – starb und verdarb bei seinem Gelde.

Der seelensiechen, gichtbrüchigen Menschheit von heute möchte es wohl auch so ergehen wie dem in glückloser Selbstsucht vertrockneten Geizhals, wenn nicht endlich der Genius der Jugend, die Macht des Ideales und der Hang nach dem reinen Glücke des Herzens doch siegen müßte.

Ihr kennt die Geschichte, wie der arme Gregor hinausging in den Wald, um für seine lieben Kinder ein Christbäumchen zu holen. Dabei ergriff ihn der Förster und ließ ihn als einen Dieb und Waldfrevler sofort in den Arrest stecken. Das bürgerliche Gesetzbuch sagt, der Förster hätte recht gethan. Nun tragen wir freilich noch ein anderes Gesetzbuch in unserem Herzen, das spricht hier den Geklagten frei und klagt den Kläger an. Das ist mir schon ein Verdächtiger, der immer nur aufs bürgerliche Gesetzbuch schaut. Als ich einst in jungen Jahren aus dem Waldhause in die Fremde ging, unwissend und unerfahren, nahm mich meine Mutter ait der Hand und sagte: „Peter, wenn Du einmal einem Andern etwas thun willst und weißt nicht, ob’s recht oder unrecht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 834. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_834.jpg&oldid=- (Version vom 11.10.2022)