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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

ist, so mache auf ein Vaterunser lang die Augen zu und denk, Du wärest der Andere.“ – Da habt ihr das Evangelium, den Katechismus und das bürgerliche Gesetzbuch in wenigen Worten beisammen.

Ihr Gesetzgeber, Prediger und Lehrer, ihr Künstler, Dichter und Zeitungsschreiber, alle, die ihr zum Volke redet, ein gemeinsames Ideal müßt ihr schaffen helfen, anstatt es zu gefährden. Wo das menschenverbindende Ideal fehlt, da befehden sich Kinder und Eltern, Diener und Herrschaft, es befehden einander die Stände, die Nationen, die Rassen, und unsere entwickelte Cultur, die dem Frieden und Wohlwollen dienen sollte, wird die raffinirte Schürerin unendlichen Haders und Krieges. Dabei lösen wir vor lauter Klügeln und Spitzfindigkeit uns zu Schemen auf, oder erstarren zur rohen Materie, deren ganzer Idealismus im Courszettel besteht.

Und ihr hochweisen Herren, die ihr euer Wissen und gelehrtes Wähnen ins Volk schleudert und damit Alles auszurichten, zu ersetzen vermeint, ich sage euch das: Wo Glaube und Hoffnung nicht ist, da kann auch die Liebe nicht sein.

Bange wird mir oft, wenn ich das unheimliche Treiben unserer Zeit, die grauenhafte Verwirrung unserer Geister betrachte. Aber die eine Zuversicht habe ich: Wenn die Menschheit im skeptisch-frivolen Greise sich verliert, im schuldlosen Kinde wird sie sich wieder finden, im treuherzigen Gemüthe, in der Wahrhaftigkeit und Zuversicht, in der Natürlichkeit und kindlichen Freude.

Ostern ist das Fest der Macht, Pfingsten das der Schönheit, Weihnacht das der Liebe. Und darin erkenne ich an diesem Feste das göttlich Liebevolle, daß es uns zurückführt zur Kindschaft. Werdet wie die Kinder und das Himmelreich ist euer! Dieser Ausspruch hat heute noch erhöhtere Bedeutung, als vor eintausendachthundert Jahren. Damals sang auch Jemand: Friede den Menschen! Das hören wir seitdem jedes Jahr und sagen es so oft, daß wir nichts mehr dabei denken. Wer die jagenden, hastenden, ruhelos sich betäubenden, hassenden, verzweifelnden Kinder der Welt betrachtet, deren Evangelium und Lebenszweck im „Kampf um’s Dasein“ besteht, der wird ahnen, welch ein Weihnachtsgeschenk der heilige Christ uns zugedacht hat in der friedenssüßen Kindheit des Menschensohnes.

Finden denn die Weihnachtsglocken nimmer Harmonie in unserer Seele? Heute ausgelassene Freude, morgen wieder Lieblosigkeit. Wäre denn die Treue, das herzliche Anschließen des Menschen an den Menschen nicht selbstverständlich auf dieser Welt, wo die Elemente jede Stunde tausend Waffen gegen uns bereit halten? Wahrlich, es ist nicht klug, sich Feinde zu schaffen unter den Brüdern und hohlen Phantomen nachzujagen und Herzen zu verwunden die kurze Zeit, da wir das Sonnenlicht schauen über den Gräbern. Die Lichter heute am Weihnachtsbaum, sie brennen genau so feierlich, ernst und still, wie jene dereinst an der Todtenbahre! –


Nachdruck verboten.

Am Abgrund.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

Immer enger schloß ich mich meinem gelehrten Freunde an, wir durchstreiften Wald und Thal – bei jedem Schritte ein Wort des Wissens, der Belehrung – und so war es natürlich, daß mein junges Herz in dem Hause des Magisters blieb, während ich theilnahmlos daheim am runden Tische saß und über Dinge reden hörte, die mir fremder geworden denn je. Ja, wenn es nur das gewesen wäre, aber unsere Seelen wurden sich auch fremd und fremder, ich verstand die Meinen nicht mehr und sie mich nicht, und das war es ja eben!

‚Fremd und fremder!‘ sagte ich. Zuerst die Mutter, – sie konnte es nicht überwinden, daß einer ihrer Söhne ein Stubenhocker, ein Bücherwurm geworden. Ihr imponirte es wenig, daß ich der Fürstin vorgelesen, daß mich die Lehrer lobten und daß ich am Schluß des Winterhalbjahrs eine lateinische Rede in der Aula hielt. Sie hatte dafür ihre Freude an dem Bruder, der Sonntags im modischen Anzuge, wie aus dem Ei geschält, von Erfurt herüber kam, wo er, um sich auswärts umzuthun, als Commis in einem größeren Geschäfte unserer Branche Stellung genommen hatte. Sie freute sich über ihn in einer Weise, daß es mir weh zu thun begann; er war so frisch, so hübsch, er war die Zukunft des Hauses, ihres Alters Trost, ihre künftige Stütze; von mir war keine Rede mehr. Sie hatte ihr Wohlgefallen an der Schwester, die einen Bräutigam gefunden, den jungen Apotheker nebenan. Im fröhlichen Kreise nach des Tages Last und Hitze saßen sie scherzend und lachend vor der Hausthür, oder zogen Sonntags in den Wald, nach dem Jägerhause, um Röstwürstchen und Weizenbier zu genießen und Abends mit lautem Singen heimzukehren, nachdem sie alle Ereignisse des Städtleins beredet und besprochen hatten.

Daß ich lieber daheim blieb bei meinen Büchern, daß ich des Magisters stillen Garten und meinen Homer dem Trubel und dem Gedränge auf der Schützenwiese, oder dem Kegelspiele im ‚Sonnen‘-Garten vorzog, das verstand die Mutter nicht, aber sie hielt mich für unleidlich hochmüthig; der ‚Herr Professor‘ nannte sie mich. Der Herr Professor! – Und kam ich mitunter zu ihr, um mich schmeichelnd zu ihr hernieder zu beugen, so sagte sie herbe scherzend:

‚Ei, ei! Der Herr Professor lassen sich herab zu mir?‘ Oder: ‚Hat ein so gelehrter Herr denn noch Zeit, seine dumme Mutter zu herzen?‘ –

Der Einzige, der mich noch bei dem alten Kosenamen ‚Hans‘ rief, das war der Vater. Ja, der Vater – wenn er bei uns geblieben wäre! Aber da kam einmal ein Tag, an dem der Laden geschlossen blieb und meine Mutter mit rothen nassen Augen ein Trauerkleid für sich und die Schwester vom Stücke schnitt. In der Ladenstube saß ich mit Friedrich am Sarge des Vaters, drei Nächte lang, und hatte mich schier aus einander geweint. Am dritten Tage schritten wir hinter dem Sarge über unsere Schwelle, und drinnen weinten und jammerten die Frauen. Das war gerade vier Wochen vor dem Abiturium, eine Zeit, in der, wie Sie ja auch wissen, so ein junger Kopf ohnehin schon schwer in Anspruch genommen wird.

Ich saß vor meinen Büchern in dem kleinen Stübchen oben und konnte mich noch immer nicht besinnen ob des plötzlichen Verlustes; ich hörte wie sonst die Schelle herauf klingen, die einen Käufer meldete, hörte der Mutter geschäftigen Tritt und der Schwester Walten, und es klang doch so sonderbar, so anders. Ja, es war viel Freudigkeit dahin an meinem Schaffen. – Friedrich reiste wieder nach Erfurt; die Mutter wollte das Geschäft allein besorgen, bis seine Zeit dort um sei. Ich trat zu ihr, als Friedrich fortging, und fragte sie, ob ich ihr helfen könne bei den Rechnungen und Büchern.

Du?‘ sagte sie und trocknete ihre weinenden Augen; aber sie dankte mir nicht einmal.

Ich stand und ging so um sie herum und fand doch kein Wort, das mich ihr näher brachte; sie hatte auch weniger Zeit noch als sonst; sie kam selten einmal zum Ausruhen und meine Examenarbeiten drängten; so ließ ich es denn und schob einen herzlichen Annäherungsversuch auf bis zu gelegenerer Zeit. Aber mir war unter ihren traurigen vorwurfsvollen Blicken zu Muthe, als hätte ich schwer gegen sie gesündigt, und wußte doch nicht womit.

So bedrückt arbeitete ich und ging still einher, daß der Magister mich fragte und mich lächelnd und mild tröstete: ‚Der Kummer um den Vater, Hans; – ein schwerer Stand, der Wittwenstand, besonders bei einer Geschäftsfrau; habe Geduld – Rebus in adversis animum deponere noli! Was sagen will: Verliere nie den Muth im Mißgeschick!‘

Am 25. März 1831, acht Tage vor Ostern, machte ich das Examen. Feierlich theilte der Director uns das Resultat mit, dessen wir abgespannt und erwartungsvoll harrten; nun, Sie kennen ja auch diese Stunden. Gottlob, wir hatten sämmtlich bestanden! Ich verließ mit einem wunderlichen Gefühle das alte Schulgebäude. – ‚Zum Herrn Magister!‘ das war mein erster Gedanke, – mein zweiter: ‚Wenn der Vater noch lebte!‘ Dann kehrte ich um und schlug den Weg nach Hause ein. Ich weiß nicht, ob es nur das Bewußtsein war, daß die Mutter doch das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 835. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_835.jpg&oldid=- (Version vom 28.12.2022)