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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Zwanzig Jahre waren vergangen, seit die kleine Marie ihren Einzug in's Pfarrhaus gehalten hatte, und Weihnachten war wieder gekommen.

In einem behaglichen, von Geschmack und Wohlhabenheit zeugenden Zimmer saß am Fenster eine junge, hübsche Frau. Die dunklen Locken hingen, der Mode zum Trotz, gelöst den Nacken hinab, was der ganzen Erscheinung mit dem jugendfrischen Gesicht etwas Mädchenhaftes gab.

Wir erkennen unschwer in dem Gesichte die kindlichen Züge der kleinen Marie wieder. Der würdige Pfarrer und seine gutmüthige Ehehälfte hatten freundlich den Wunsch der Sterbenden erfüllt. Unter ihrer liebevollen Pflege war das Kind zur Jungfrau herangereift und dann einem geliebten Manne zum Trau-Altar gefolgt. Wohl hatte es sich damals wie ein Schleier auf ihr junges Liebesglück gesenkt, als ihr – wenige Tage vor der Hochzeit – ihr Pflegevater den Brief mit den von der sterbenden Mutter geschriebenen Abschiedsworten übergab, und sie hatte der theuren Todten heiße Thränen nachgeweint. Aber durch die Liebe ihres Mannes waren diese Thränen bald wieder getrocknet worden und Jahre des ungetrübtesten Glückes waren gefolgt. War es wohl neu erwachter Schmerz um die unglückliche Dahingeschiedene, was seit einiger Zeit die schönen Züge der jungen Frau mit einem Hauche der Wehmuth überzog? Die Mutter war doch lange todt, und ihre Abschiedsworte hatten der Tochter gesagt, daß sie beruhigt über das Schicksal ihres Kindes, beinahe glücklich gestorben war. Das konnte es nicht wohl sein. Was aber dann? – Man hatte eben noch einige Vorbereitungen für die Bescheerung vollendet, als die Frau Pfarrerin in’s Zimmer trat, um sofort allerlei niedliche Geschenke für ihr einziges Enkelchen, Grete’s wilden Jungen, auszupacken.

„Der wird lachen, der kleine Kerl!“ sagte die Großmutter vergnügt. „Aber was hast Du nur wieder, Marie? Weihnachtsabend und Thrälnen in den Augen!“

„Verzeih’, Mütterchen,“ klagte Marie, „aber das Herz ist mir zu voll! Ach, wir könnten ja so glücklich sein, mein Mann und ich, wenn nur das Eine uns nicht versagt wäre, ein – Kind! Du glaubst nicht, Mütterchen, wie einsam man sich fühlt, wie verlassen! Heinrich fühlt es mit mir, was uns fehlt, ich sehe es oft, wie sich ein Schatten über seine Stirn legt, wenn er Kinder sieht und Kindergeplauder hört. – Warum muß uns denn gerade solch ein Glück versagt sein? gerade uns, die wir ein Kind so glücklich machen könnten!“

Marie weinte bitterlich, die alte Frau hatte Mühe, sie zu beruhigen.

„Ihr werdet bei uns kein frohes Fest verleben, Mütterchen,“ begann sie von Neuem; „es ist nur ein Glück, daß Grete erst morgen früh bescheert, da kommt sie doch mit ihrem Jungen; kann es etwas Traurigeres geben, als Weihnacht und kein Kind im Haus?“

Mitten unter dem Weihnachtsbaum saß ein schönes blondlockiges Kind.

In dem Augenblicke kam Marie’s Gatte herein, er hatte offenbar den letzten Ausruf seiner Frau noch gehört. Aber während ihn sonst derartige Aeußerungen stets tief bewegten schien er sie diesmal nicht zu beachten. Er warf seine vollgeschneite Mütze auf einen Stuhl, lachte heiter in sich hinein, die strahlenden Augen auf seine Frau gerichtet. Der alten Pfarrerin nickte er, ohne daß Marie es merkte, verstohlen zu.

„Du bist ja so heiter, wie noch nie zu Weihnachten, Heini, siehst beinahe aus, als ob Du das große Loos gewonnen hättest,“ sagte Marie.

„Habe ich auch, Schatz, habe ich auch!“ lachte er heiter, „und Du sollst nicht zu schlecht dabei wegkommen!“

Marie dachte: gewiß hat er mir irgend ein prachtvolles Kleid zum Geschenk ausgesucht, der Arme, er fühlt ja so gut wie ich, daß Weihnacht für uns ein stilles Fest ist und ohne Sang und Klang vorübergeht. –

Der heilige Abend war da. In allen Fenstern blitzten jetzt die Lichter am Baume auf. Schwester Grete war mit Mann und Söhnchen angekommen. Heinrich lief in fieberhafter Geschäftigkeit hin und her. Immer noch hatte er etwas zu ordnen; es war aber auch keine Kleinigkeit, mit der er sein geliebtes Weib heute beschenken wollte. Endlich war er fertig, die Lichter am Baume waren angezündet. Ganz feierlich kam er jetzt in’s Zimmer, wo Alle versammelt waren, faltete ein Taschentuch zusammen und band es der widerstrebenden Marie über die Augen mit den Worten:

„Hilft Dir kein Sträuben, mein Kind; dafür wirst Du eben überrascht!“

Er nahm sie an der Hand, öffnete die Thür und führte Marie dicht an den Tisch heran, auf dem der Weihnachtsbaum stand. Die Eltern und Grete hatten sich lächelnd bei Seite gestellt, um den Eindruck zu sehen, den Heinrich’s Ueberraschung hervorrufen werde. Dieser nahm ihr die Binde ab und trat bewegt zurück. Marie stand einen Moment starr da. Der Anblick, der sich ihrem entzückten Auge bot, war aber auch werth, daß eines Malers Hand das Bild festgehalten hätte. Mitten unter dem hohen Weihnachtsbaume, von dessen breiten Aesten halb verdeckt, saß ein schönes, blondlockiges Kind im weißen Kleidchen, einen Rosenkranz in die goldenen Locken gedrückt. Aus seinen blauen Augen schaute es Marie groß an, dann hob es die runden Aermchen, streckte sie ihr entgegen und rief: „Mama!“

Marie schrie laut auf vor Freude, die Thränen stürzten ihr aus den Augen, sie nahm das Kind in ihre Arme und küßte es stürmisch.

„Und das soll mein sein, Heinrich?“ rief sie in übergroßer Freude ihrem Manne zu.

„Dein für’s ganze Leben, das Kind ist eine arme Waise, kein Mensch hat ein Anrecht daran als Du, fortan sein kleines Mütterchen!“ Er umschlang Beide, Mutter und Kind.

Feierlich tönten von der nahen Kirche die Glocken und der Gesang des Liedes: „Stille Nacht, heilige Nacht!“

Aus den Zweigen des Lichterbaumes aber schien wie mit

Geisterhauch die Stimme der seligen Mutter der Tochter zuzuflüstern: „Mache das Kind so glücklich, wie Du es geworden bist!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 846. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_846.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2022)