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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


stehen und faßte in die Tasche des Ueberziehers; wie ich den Hut abnahm, lief es mir kalt über die Stirn, daß ich hastig darüber fuhr. – –

‚Hans, mein Junge!‘ sagte da eine milde Stimme, ‚hast Du wirklich einmal Philosophie studirt?‘ Und eine zitternde Hand bog danach kräftig meinen Arm zurück, daß die Waffe sich zur Erde senkte. ‚Leih’ mir Deinen Arm, daß ich mich stütze – laß uns zusammen plaudern und gieb mir das, was Du da in der Hand hast. Sieh’ – so ist’s recht; schau, wenn es so weiter regnet, wird’s ein schlechtes Obstjahr – die Apfelblüthe ist hin. Wir gehen gleich durch’s Pförtlein, Hans,‘ fuhr er fort; ‚setze Deinen Hut auf – so; es freut mich nur, daß ich Dich getroffen, wir können da noch einen Schluck Wein mit einander trinken. Ich komme eben vom Denkmal der Rosa Rettberg, hatte schon den ganzen Tag hinüber gewollt, mußt’ aber lange bei der Fürstin sitzen. Sie ist schier außer sich an solchem Erinnerungstage, und heute ganz besonders, wo ihr zu Ohren gekommen, daß in der Stadt das Märchen gehe, ihr Liebling habe sich vergiftet. ‚O, pfui!‘ sagte sie, ‚was hat die arme Seele gethan, daß man sie noch so beschimpft? Feig war sie nie, meine Rosa.‘

Ich stöhnte wohl auf bei diesen Worten, denn er preßte meinen Arm fester an sich. Und als wir endlich in seinem Zimmer standen, warf er den Hut auf den Tisch und sah mich an, und so mild sein Wort gewesen, so mild war sein Blick.

‚Armer Junge! Aber nun laß mich mal sorgen für Dich! Lege Dich dort auf das Sopha und gieb mir die Hand darauf, daß Du fein still bleiben willst, bis ich wiederkomme; ich gehe nur in den Keller und hole Wein.‘

Im wirren Fieberzustand lag ich dort, ich weiß nicht mehr, wie lange; mich dünkten es Stunden.

Endlich kam er mit Wein und flößte ihn mir ein. ‚Und nun steh’ auf,‘ sagte er, ‚ich bringe Dich heim.‘

‚Nein, nein!‘ wehrte ich ab, ‚ich gehe allein, nicht Sie in dem Regen.‘

‚So geh’ allein, Hans, ich kann Dich ruhig lassen; ich weiß es.‘

Ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen stieg, und plötzlich schlangen sich seine Arme um meinen Nacken, und er küßte mich.

‚Das ist recht,‘ sagte er weich, ‚weine, Hans, weine ordentlich; es ist besser, als daß Andere um Dich weinen.‘

Zu Hause war Alles still und stumm; ich hätte es auch nicht ertragen, die Mutter zu sehen. Nur als ich an ihrem Zimmer vorbeischlich, meinte ich ein leises Stöhnen zu hören, aber Weiteres dachte ich nicht. Vergangenheit und Gegenwart gingen unter in der furchtbaren Erregung, die mich noch immer umfangen hielt. So suchte ich mein Bette auf.

Wie diese Nacht vergangen – das weiß ich nicht mehr. Gegen Morgen fuhr ich aus dem angstvollen Schlummer – am Bette saß meine Mutter; um Jahre sah sie gealtert aus.

‚Hans,‘ sagte sie mit zuckender Lippe, ‚Hans, bist Du krank?‘ Und sie faßte nach meiner Hand. ‚Ich möchte, daß Du gesund würdest, Hans, ganz gesund – so gesund, wie der Hollunderstrauch, den der Vater aus der dumpfigen Ecke herausgeholt und mitten in den Garten gepflanzt hat, der nun ein so schöner Baum geworden. Willst Du, Hans?‘ Und sie beugte sich über mich, und ihre warmen Thränen fielen auf mein Gesicht. ‚Willst wieder nach Jena, zu den Büchern? – Sag’s, oder meinst Du wirklich, daß mir die ‚Goldene Elle‘ lieber als mein einzig Kind?‘

Und sie hielt meine Hände mit leidenschaftlicher Gewalt.

‚Bin ich eine schlechte Mutter gewesen? Ich hab’s nicht besser gewußt, Hans – hab’ gemeint, ein Jeder kann, was er will – und nun soll es Etwas geben in der Menschenbrust, das stärker ist, als der eigene Wille. Du warst immer anders, Hans, ich hab’s nur nicht verstanden.‘

Und denselben Mittag noch stand eine kleine gebeugte Frau im Laden, die Augen roth von durchweinter Nacht. Und sie erzählte der Frau Stadtschreiberin, daß der Hans auf Reisen gehe, sich vorerst die Welt anzusehen, um dann weiter zu studiren, ‚denn wenn man nur den Einen hat, liebes Frauchen, soll er da nicht thun, wie es ihm am besten gefällt? Ich bin ja auch noch mobil genug, um den Laden zu besorgen, und wenn nicht, so nehme ich einen Commis; der Emilie ihr Fritzchen wächst ja auch heran; das mag Gott nun fügen, wie er will!‘ Und sie faltete das braunrothe schimmernde Gewebe zusammen und packte es in Papier. ‚So, und wenn Ihre Frau Mutter wieder fragt nach mir, so sagen Sie ihr, es ginge mir so gut, wie seit langer Zeit nicht.‘

Als ich Abschied nahm, um nach Jena zu gehen, standen zwei alte Menschen am Postwagen.

‚Hans, mein Junge,‘ sagte der Magister, ‚bisher warst Du kein Philosoph; nun halt’ die Ohren steif!‘

Die Mutter aber sah mich unverwandt an, als müsse sie sich auf Jahre hinaus sattschauen.

‚Hans, nun mach’ es, wie der Hollunderstock; werde gesund, aber schicke mir zuweilen auch eine Blüthe, ein frisches gutes Wort, weiter habe ich ja nichts mehr von Dir.‘

Und als der Wagen abfuhr, da sah ich, wie sich die alte Frau schwer auf den Arm des Magisters stützte, aber sie winkte trotzdem lächelnd mit dem Tuche.

Ja, so eine Mutter!

Aber was ich sagen wollte – da haben Sie es: es ist nicht immer die Noth des Lebens, die den Menschen zu jenem Entsetzlichen treibt; ich spreche aus Erfahrung. Noch zwei Minuten länger allein, und man hätte mich zu Grabe getragen, wie heut Ihren armen Cameraden. – – Und, sehen Sie, deshalb bin ich mitgegangen; und ich begleite Jeden zur letzten Ruhestätte, dem keine helfende Hand die Waffe herniederdrückte oder ihn am Rocke zurückhielt von dem Sprunge über das Brückengeländer. ’s ist Mitleid – das Leben kann so schön sein! – Wie gern hätt’ ich ihm gethan, wie mir der Herr Magister, dem, der da heute in die Erde gebettet ist, Friede ihm und Achtung den Gründen, die ihn dorthin getrieben!“

Er hob das Glas: „Dieses meiner Mutter und ihm, der hier gewohnt, dem alten wunderlichen Freunde!

Ich habe ihn nicht wieder gesehen!

Als ich mein Doctorexamen gemacht, kam ich zum ersten Male wieder heim; ich wollte der Mutter nicht früher vor die Augen treten, als bis etwas Rechtes aus mir geworden. Da war er bereits geschieden. Die Mutter aber stand an der Post, und wie ich den Marktberg hinan wollte, drehte sie mich um:

‚Nein – hier, Hans!‘ – Und sie wanderte mit mir zur Zimmergasse. ‚’s ist unser,‘ sagte sie einfach und deutete auf dieses Haus. ‚Ich kaufte es acht Tage nach seinem Tode. Das Geschäft dort aber hat der Schloßmüller für die Minna erworben; die heirathet Ostern meinen Commis.‘

So hat sie hier unten ihr Leben beschlossen; sie hat auf dieser Terrasse gesessen und drinnen im Zimmer den Kopf geschüttelt über die vielen, vielen Bücher. Zuweilen besuchte sie auch die Minna im Laden, später aber meinte sie: ‚’s ist doch geruhiger hier unten, es gefällt mir schon recht gut dahier.‘

Ich bin viel in der Welt umhergefahren, habe Jahre lang im Auslande gelebt, habe geschrieben und gesammelt und bin dann immer einmal wieder heimgekehrt zur Mutter. Ihr einziger Kummer war, daß ich nicht heirathete.

‚Aber Du bist mal anders, als andere Menschen, Hans,‘ sagte sie dann. Und wozu die Gelehrten eigentlich auf der Welt sind, das hat sie niemals begriffen. Wenn sie aber ganz besonders zärtlich war, sagte sie:

‚Mein Einziger, Du lebst!‘“

Der alte Mann schwieg. Nur die Frühlingsmelodien sangen weiter, die Nachtigall, das Wasser im Springbrunnen und das Flüstern der Bäume.

„Ich danke Ihnen, Herr Rüdiger,“ wollte ich sprechen, aber ich drückte ihm nur stumm die Hand und schritt allein durch die duftige Nacht weit in den Schloßgarten hinein, bis zu jenem Denkmal, auf dem die Worte stehen:

„Leben ist ewiger Kampf,
Frieden erst bringet der Tod!“




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