Seite:Die Gartenlaube (1884) 852.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Sylvesterspuk.
Ein Nachtstück von Ernst Wichert.


Es war am Sylvesterabend. Die Uhr in dem Thurm der alten Aegidien-Kirche am Hauptmarkt hatte bereits mit dem ihr seit Jahrhunderten eigenen feierlichen Tempo elf geschlagen. – Auf den Straßen war es ganz still. Wer auf dem Ball oder mit guten Freunden zusammen am Familientische lustig in das neue Jahr hinüberzuschwärmen gedachte, hatte sich schon längst unter Dach gebracht. Auch wer in den Wein- oder Bierstuben seinen Kreis gefunden, wechselte nicht leicht mehr den Platz. Es gab, wie der Wächter ganz richtig bemerkte, keine stillere Nachtstunde im ganzen Jahr als diese letzte.

Die arme Marie war allein zu Hause, und sie hatte die Verpflichtung wach zu bleiben, bis die Herrschaft zurückkehren würde.

Vor wenig mehr als einem Jahr hieß sie ganz allgemein nur die hübsche Marie, und seitdem war sie sicher noch hübscher geworden, denn sie stand in dem Frühlingsalter, in dem auch bei solchen jungen Menschenkindern „alle Knospen springen“ und täglich sich neue Reize entfalten; aber die wenigen, die jetzt von ihr sprachen, nannten sie die arme Marie. Und das hatte auch guten Grund.

Die „hübsche Marie“ war die Tochter eines kleinen Beamten, den aber jeder brauchte. Bezifferte sich daher auch sein Gehalt nur auf eine unbedeutende Summe, so liefen doch nebenher allerhand Spesen ein, die zusammengenommen dasselbe weit überstiegen, sodaß er in seiner Art ein Haus machen konnte, ohne gerade, wie man zu sagen pflegt, „über seine Verhältnisse zu gehen“. Und weil er meinte, daß man doch nur einmal lebe und zunächst immer an die Gegenwart zu denken habe, der Extraverdienst auch nicht ausreiche, um davon ein namhaftes Capital anzusammeln, und „die Sache nun einmal so im Gange“ sei, so beschwerte er sich lieber gar nicht mit Ersparnissen, bewohnte ein hübsches Quartier, hielt einen Dienstboten, ließ Frau und Kinder in den besten Kleidern paradiren und hatte jedem Sonntagsgast etwas vorzusetzen. Das bildhübsche Mädchen zog, ohne es zu wollen, viel junges Volk aus den besseren Ständen an. Es war so leicht, in dem Hause Zutritt zu erhalten, und es ging da immer so ungezwungen lustig zu! Vielleicht fand sich auch einmal Einer, der’s ernst meinte. Von einem Gewissen, der in Kurzem schon auf eine gute Anstellung rechnete, hatte sie’s ganz bestimmt geglaubt. Er hatte ihr sogar seine Photographie geschenkt. Daß er mit dem einen Beine ein wenig lahmte, wollte sie ihm schon gern vergeben.

Die Herrlichkeit hatte unerwartet rasch ihr Ende erreicht. Den noch jungen und rüstigen Vater warf eine schwere Krankheit plötzlich auf’s Bett nieder. Ein Rückfall verschlimmerte sie, da er sich nicht schonte, um größere Einbußen in seinem Einkommen abzuwenden. Nach einigen Monaten voll Angst und Sorge wurde er nach dem Friedhof hinausgetragen. Das Begräbniß war „erster Classe“; das glaubte die Familie seinem Andenken bei den zahlreichen Bekannten und Freunden schuldig zu sein. Aber die Kosten verschlangen den größten Theil des Nachlasses. Der Wittwe blieb eine ganz unzureichende Pension. Die jüngeren Kinder mußten bei mildherzigen Leuten untergebracht werden, Marie war „alt genug“, sich ihren Unterhalt selbst verdienen zu können.

Es traf sich auch so glücklich, sie in einem vornehmen Hause als „Jungfer“ unterzubringen. Sie hatte da zwar auch die leichteren Dienste eines Stubenmädchens zu verrichten, aber der gnädigen Frau auch bei der Toilette behülflich zu sein und Abends den Thee einzuschenken. Sie war im Nothfall Vorleserin und besorgte Einkäufe, es gehörte zu ihren Pflichten, stets gut angezogen zu sein, um sich neben ihrer Herrin auch auf der Straße zeigen zu können. Sie führte kein bequemes Leben, aber sie zählte doch nicht geradehin zum Gesinde und durfte nach außen hin wenigstens den Schein wahren, eine junge Dame zu sein. Darauf legte sie großes Gewicht. Sie war vielleicht nicht eitler, als sonst hübsche Mädchen zu sein pflegen, aber sie hätte doch nicht einen Mann heirathen mögen unter dem Stande ihres Vaters und ohne ein Einkommen, das ihr erlaubte zu leben, wie sie’s von Hause gewöhnt war. –

Nun brachte ihre Herrschaft den Sylvesterabend auswärts zu, und auch die Magd hatte Erlaubniß erhalten, ihr Vergnügen zu suchen. Der Kutscher war im Stall bei den Pferdem und der Diener leistete ihm Gesellschaft, bis um ein Uhr der Wagen hinauszubesorgen sein würde. Marie war allein in den Wohnräumen. Sie sollte sich wach halten, um gleich bei der Rückkehr der Herrschaft öffnen und die gnädige Frau zu Bett bringen zu können.

Sie hatte die Thüren nach dem Flur von innen verschlossen oder verriegelt – nichts Zufälliges sollte sie erschrecken. Es waren das hohe, schmale, zweiflügelige, weißlackirte und mit geschweiften Goldleisten verzierte Thüren, die muschelartige Aufsätze trugen. Das wenige Licht, das von den Straßenlaternen durch die Spalten der schweren Damastvorhänge an den Fenstern fiel, spiegelte sich fast nur auf ihnen und allenfalls noch auf den Stuckverzierungen der Decken, auf den Glasprismen der Kronleuchter, die von denselben tief herabhingen, und auf den aus der dunklen Tapete vortretenden Bronze-Armleuchtern. Marie saß im letzten Zimmer bei einer kleinen Lampe, deren gelblicher Lichtschein nur die nächste Umgebung des Tischchens erhellte, das sie an den nur noch lauwarmen Ofen gerückt hatte. Es war unheimlich still um sie her; nur der nasse Schnee klatschte an die Fensterscheiben.

Sie hatte sich beschäftigt. Auf dem Tisch lag ein Gesangbuch mit schwarzem Deckel und goldenem Kreuz. Es war längst wieder geschlossen und für’s neue Jahr zurückgelegt, das mit frommen Gedanken eröffnet werden sollte. Ein aufgeschlagener Roman daneben mochte sie darnach eine Weile unterhalten haben. Jetzt aber legte sie sich Karten. Immer wieder fragte sie beim Schicksal an, was es ihr für’s neue Jahr bestimmt hätte, aber nie schien sich nach Wunsch zusammenfinden zu wollen, worauf sie wartete! Die garstigen Karten, wie langweilig das wurde!

Sie stand zur Abwechselung auf, trat an’s Fenster, schob die Vorhänge ein wenig zurück und schaute hinaus. Ganze Etagen der gegenüber liegenden Häuser waren erleuchtet. Da sind sie versammelt, dachte sie, denen das alte Jahr nichts als Freuden gebracht hat und die nun bei gefüllten Gläsern auch in’s neue hinüberjubeln. Bei uns ging’s auch einmal so lustig her. Das ist vorbei. Alle meine Hoffnungen sind begraben. Ein Jahr wird nun hinschleichen wie das andere in einförmigem Dienst, und es wird von dem kärglichen Lohn wieder nichts erübrigt sein. Was nützt auch der schmale Spargroschen? Ein armes Mädchen bringt’s zu nichts, wenn es sich ehrlich hält. Und das bischen Hübschigkeit … Reell meint’s doch keiner. Die reichen Leute –! denen fällt alles in den Schooß. Und verdient haben sie’s doch wahrlich nicht. Aber es ist so in der Welt, daß man gar nicht darnach fragt. Wem’s bestimmt ist, der hat’s. Ah - wenn ich nur ein einziges Mal …

Marie seufzte recht schwer, ging an das Tischchen zurück, nahm die Karten auf, warf sie aber gleich wieder fort. Sie lügen doch nur, murmelte sie, das Glück läßt sich nicht zwingen. Könnte man nur schlafen! Womit die Zeit herumbringen? – Sie ergriff die Lampe und trat ins anliegende Schlafzimmer der Herrschaft, nochmals nachzusehen, ob alles in Ordnung. Da standen die beiden Betten unter dem blauseidenen Baldachin, an

der Wand hinten schwereichene Garderobenschränke mit geschnitzten

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 852. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_852.jpg&oldid=- (Version vom 26.3.2019)