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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Und die lustige Tante mit der großen Nase und den gescheiten braunen Augen hielt es für den klügsten Einfall ihres ganzen Lebens, eine alte Jungfer geworden zu sein, dieweil auf diese Weise doch noch für ein Weilchen eine echte Lamprechts-Physiognomie aus der Hausfrauenstube auf den Markt hinausgucke. – Das klang nun freilich ebenso unangenehm nervenberührend für das Ohr der Frau Amtsräthin, wie die stehende Bemerkung über das Kaiserwetter; aber die Frau Amtsräthin war eine sehr feine Dame, die zu Hofe ging, und Tante Sophie steckte stets die unschuldigste Miene auf, und so kam es nie zu einem Streit zwischen Beiden.

„Amtsraths“, die Schwiegereltern des Herrn Lamprecht, wohnten im zweiten Stock des Haupthauses. Der alte Herr hatte sein schönes Rittergut verpachtet und sich zur Ruhe gesetzt; aber er hielt es in der Stadt nicht lange aus. Er ließ Frau und Sohn – seinen einzigen – oft allein und war weit mehr draußen in Dambach, in der Landluft, wo ihm der Wald und das Hasenrevier greifbar nahe lagen, und er in dem geräumigen, zu der Fabrik gehörigen Pavillon seines Schwiegersohnes hausen konnte, so oft und so lange er Lust hatte.

Es schlug Vier auf dem nahen Rathhausthürmchen, und mit der Nachmittagskaffeestunde nahte das Bleichwerk seinem Ende. Die Wäsche hatte sich allmählich in den riesigen Korbwannen weiß und hoch wie Schneehügel aufgethürmt, und Tante Sophie nahm zu allerletzt die Klammern behutsam von den kostbaren Wäsche-Alterthümern. Aber da gab es ihr plötzlich einen förmlichen Stich durch das Herz.

„Eine schöne Bescheerung!“ rief sie ganz erschrocken und betreten der helfenden alten Magd zu. „Da guck’ her, Bärbe! Das Tafeltuch mit der Hochzeit zu Kana ist aus dem Leim gegangen – es hat einen mächtigen Riß!“

„Ist auch alt genug – der reine Zunder! Alles hat seine Zeit, Fräulein Sophie!“

„Was Du doch gescheit bist, alte, kluge Bärbe! Das Sätzchen kann ich auch auswendig. O je, der Schaden geht dem Speisemeister geradeswegs durch die ganze Physiognomie – da werde ich meine liebe Noth mit dem Stopfen haben!“ Sie hielt das dünngewordene, morsche Gewebe prüfend gegen das Licht. „Ein altes Erbstück ist’s freilich! Die Frau Judith hat das Gedeck noch mit eingebracht.“

Bärbe räusperte sich laut und schielte verstohlen nach den Fenstern des östlichen Seitenflügels empor. „Solche Leute, die keine Ruhe in der Erde haben, die muß man nicht so laut beim Namen nennen, Fräulein Sophie!“ rügte sie mit gedämpfter Stimme und mißbilligendem Kopfschütteln. „Justement in der Zeit nicht, wo es wieder umgehen thut – der Kutscher hat es erst gestern Abend wieder weiß um die Gangecke laufen sehen –“

„Weiß? Na, dann ist’s ja doch der Spinnwebenrock nicht gewesen … Also der nette dicke Kutscher spielt sich auf das Sonntagskind in Eurer Gesindestube? Das sollte nur der Herr wissen! Ihr Hasenfüße wollt wohl sein Haus wieder einmal in aller Leute Mäuler bringen?“ – Sie zuckte die Achseln und schlug das Tafeltuch zusammen. „Mir, für meine Person, mir wäre das übrigens ganz egal. Es hört sich eigentlich gar nicht schlecht an, wenn die Leute sagen: ‚die weiße Frau in Lamprecht’s Hause!‘ Alt und angesehen genug sind die Lamprechts ja! Den Luxus können wir uns schon erlauben, so gut wie die im Schlosse.“

Diese letzten Worte waren offenbar nicht an die Adresse der Magd gerichtet – Tante Sophiens braune Augen zwinkerten lustig nach der Lindengruppe vor der Weberei. Dort funkelten ein Paar Brillengläser auf dem feinen Nasenrücken der Frau Amtsräthin. Die alte Dame hatte ihren Papagei ein wenig in’s Grüne heruntergetragen und hielt Wache bei ihm von wegen der Hauskatzen. Sie stickte, und neben ihr, am weißgestrichenen Gartentische, saß ihr Enkel, der kleine Reinhold Lamprecht, und schrieb auf seiner Schiefertafel.

„Ich will nicht hoffen, daß Sie das ernstlich meinen, liebste Sophie!“ sagte die Frau Amtsräthin; eine leichte Röthe war in ihr Gesicht getreten, und die Augen blickten scharf über die Brille. „Mit solchen geheiligten Vorrechten spaßt man übrigens nicht; das ist unziemlich – Strengere als ich würden sagen ‚demokratisch‘!“

„Ach ja, das sähe Denen schon ähnlich!“ lachte Tante Sophie, „Das sind Solche, die auch am liebsten wieder mit Feuer und Schwert in der Welt hantiren möchten! Aber muß denn der Mensch gleich ein Demokrat sein, wenn er nicht wie ein Wurm am Boden kriecht? Bei Denjenigen, die da wiederkommen, um die lebendigen Kreaturen in’s Bockshorn zu jagen, ist doch kein Unterschied mehr, und die weiße Schloßfrau muß ebenso gut erst aus einem Moderhäufchen steigen, wie dem Urgroßvater Justus sein schönes Dorchen auch!“

Die alte Dame rümpfte die feine, kleine Nase und schwieg indignirt. Sie legte ihren Stickrahmen weg und trat zu Bärbe. „Wie ist denn das – der Kutscher will gestern Abend auch in dem Gange etwas gesehen haben?“ fragte sie gespannt.

„Ja wohl, Frau Amtsräthin, und der Schreck liegt ihm heute noch in allen Gliedern. Er hat oben in den guten Stuben bis zur Dämmerstunde die Fußböden gewichst, und nachher beim ’Runtergehen ist’s ihm gewesen, als wenn in dem Gange hinten eine Thür sachte zugemacht würde – Frau Amtsräthin, in dem Gange, wo im ganzen Leben kein Thürschlüssel umgedreht wird! Na, kurz und gut – es ist ihm freilich eiskalt über den Rücken gelaufen, und die Beine sind ihm bleischwer geworden; aber er hat sich doch ein Herz gefaßt, ist ein paar Schrittchen auf die Seite geschlichen und hat um die Ecke geschielt. Und da ist’s vor seinen Augen in den langen Gang hingehuscht, ganz schlank und schmächtig und schneeweiß von oben bis unten –“

„Vergiß nur ja die schwarzledernen Handschuhe nicht, Bärbe!“ warf Tante Sophie ein.

„Bewahr’ mich Gott, Fräulein Sophie, nicht einen schwarzen Faden hat das Unding an sich gehabt! Und wie’s um die andere Gangecke saust, da fliegt Alles aus einander wie Schleierzeug und ist verschwunden gewesen, der Kutscher sagt, wie Rauch im Winde. Den bringen um die Dämmerstunde nicht zehn Pferde wieder bis an den Gang hin!“

„Wird auch gar nicht verlangt von der Heldenseele – der gehört in den Altweiberspittel mit seinem Spinnstuben-Gewäsch!“ sagte Tante Sophie halb amüsirt, halb ärgerlich und griff nach einer Serviette, um sie von der Leine zu nehmen: aber in demselben Augenblick fuhr auch ihr Kopf herum. „Potztausend, was kommt denn da angerasselt? Ja Gretel, bist Du denn närrisch?“

Durch den hochgewölbten Thorweg des Haupthauses kam ein hübscher Kinder-Landauer mit einem Gespann von zwei Ziegenböcken in den Hof hereingebraust. Die Lenkerin, ein Mädchen von ungefähr neun Jahren, stand aufrecht und hielt die Zügel stramm in den Händen. Der runde, breitrandige Strohhut war ihr nach dem Nacken zurückgesunken und schwebte, von den Bindebändern am Halse festgehalten, wie eine gelbe Heiligenscheibe hinter dem dunklen Gelock, das wild im scharfen Zugwind aufflog.

Das Gefährt rollte bis zu den Linden, unter denen der kleine Reinhold saß; da erst wurde mit einem kräftigen Ruck Halt gemacht, zum Schrecken des Papageien, der laut aufkreischte, während der Knabe von der Bank glitt.

„Aber, Grete, Du sollst ja nicht mit meinen Böcken fahren! Ich will’s nicht haben!“ zankte Reinhold weinerlich, und sein blasses, schmales Gesichtchen röthete der Zorn. „Es sind meine Böcke! Der Papa hat sie mir geschenkt!“

„Ich thu’s nicht wieder, ganz gewiß nicht, Holdchen!“ versicherte die Schwester, vom Wagen springend. „Geh, sei nicht böse! – Hast mich noch lieb?“ – Der Kleine kletterte wieder auf seine Bank und ließ es nur widerwillig geschehen, daß sie ihn mit stürmischer Zärtlichkeit umfaßte. – „Siehst Du, Hans und Benjamin wollen ja doch auch ihren Spaß haben! Die armen Kerle sind so lange im Dambacher Stalle eingesperrt gewesen.“

„Und Du bist wirklich allein von Dambach hereingefahren?“ fragte die Frau Amtsräthin, Entrüstung und nachträglichen Schrecken in ihrer zarten Stimme.

„Natürlich, Großmama! Der dicke Kutscher kann doch nicht hinter mir im Kinderwagen sitzen! Der Papa ist nach Hause geritten, und ich sollte mit der Factorin wieder im großen Wagen hereinfahren; aber die Trödelei dauerte mir zu lange.“

„Solch ein Unsinn! Und der Großpapa?“

„Der stand im Hofthor und hielt sich die Seiten vor Lachen, wie ich vorbeisauste.“

„Ja, Du und der Großpapa! Ihr seid mir“ – die alte Dame verschluckte weislich den Rest ihrer scharfen Bemerkung und zeigte mit dem Finger empört auf Brust und Leib der Enkelin. „Und wie siehst Du aus? So bist Du durch die Stadt gefahren?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_003.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2020)