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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Herr Lamprecht stieg indessen vom Pferde. Er war nahe genug, um zu hören, wie seine Schwiegermutter mit mißbilligendem Erstaunen zu Tante Sophie sagte: „Wie kommt denn Gretchen zu der Intimität mit den Leuten da drüben?“

„Intim? Davon weiß ich nichts. Ich glaube nicht, daß das Kind je die Treppe im Packhause hinaufgestiegen ist. Nichts als das gute Herz ist’s, Frau Amtsräthin! Die Gretel ist eben hilfreich gegen Jedermann; das ist die richtige Höflichkeit und mir tausendmal lieber als Solche, die außen voller Komplimente sind und innerlich recht grob denken in Bezug auf andere Menschen … Es mag aber auch bei dem Kinde die Freude an der Schönheit sein – ich mach’s ja nicht besser! Mir lacht immer das Herz im Leibe, wenn ich das schöne Mädchen dort auf dem Gange hantiren sehe.“

„Geschmackssache!“ warf die Amtsräthin leicht hin; aber ihre Stirn furchte sich im Mißmuth, und ein finsterer Seitenblick streifte den Sohn, der sich tiefer über Reinhold’s Schiefertafel bückte. „Das blonde Genre hat nie Reiz für mich gehabt,“ setzte sie mit ihrer stets sanften, gedämpften Stimme hinzu. „Uebrigens habe ich ja gewiß an Gretchens Zuvorkommenheit nichts auszusetzen; es überrascht und freut mich vielmehr, daß sie auch höflich sein kann. Ich gehöre auch nicht zu ‚Solchen‘, die innerlich grob in Bezug auf andere Menschen denken, Liebste – keineswegs; dazu bin ich zu mild und christlich! Aber ich stehe auch fest auf meinen gut konservativen Anschauungen, nach welchen gewisse Grenzen absolut aufrecht erhalten werden müssen … Das junge Mädchen – mag es auch Erzieherin in England gewesen sein und einen höheren Bildungsgrad erlangt haben – allen Respekt vor diesem Streben! – aber ich sage trotzalledem: dieses Mädchen ist und bleibt hier doch nur die Tochter eines Mannes, der für die Fabrik arbeitet, und das muß für uns Alle maßgebend sein – Hab’ ich nicht Recht, Balduin?" wandte sie sich an ihren Schwiegersohn, der etwas Ungehöriges an dem Sattelzeug seines Pferdes zu prüfen schien.

Er hob kaum die Stirn; aber ein verstohlener Blitz zuckte seitwärts aus seinen dunkelglühenden Augen, so jäh und grell, als wolle er die zarte, sanfte Frau zu Staub und Asche verbrennen. Sie mußte einen kurzen Moment auf die Bestätigung ihres Ausspruchs warten, dann aber kam sie prompt und gleichmüthig von den Lippen des schönen Mannes: „Sie haben ja stets Recht, Mama! Wer würde sich wohl unterstehen, anderer Meinung zu sein?“

Er drückte sich den Hut tiefer in die Augen und führte das Pferd nach dem Stall in der Weberei.


2.

Unter den Linden ging es inzwischen ziemlich laut her. Margarete hatte die aufgelesenen Rosen auf den Gartentisch gelegt – nur so lange, bis Fräulein Lenz wieder auf den Gang herauskomme, sagte sie und kniete auf der Bank neben dem kleinen Bruder nieder.

„Da sieh’ her, Grete!“ sagte Herbert und zeigte auf die Schiefertafel. Er sah noch sehr roth aus, und seine Stimme klang so sonderbar zitterig und unterdrückt – wahrscheinlich noch vom Aerger, dachte das kleine Mädchen. – „Sieh her,“ wiederholte er, „und schäme Dich! Reinhold ist fast zwei Jahre jünger als Du, und wie schön und korrekt ist seine Schrift gegen Deine Buchstaben, die so häßlich groß und steif sind, als wären sie mit einem Stück Holz, und nicht mit der Feder geschrieben!“

„Aber deutlich sind sie,“ entgegnete die Kleine ungerührt – „so schön deutlich, sagt Bärbe, daß sie die Brille gar nicht erst aufzusetzen braucht wie beim Gesangbuchlesen – warum soll ich mich denn da plagen mit den dummen Schnörkelchen?“

„Nun ja, das konnte ich wissen – Du bist ein unverbesserlich faules kleines Mädchen!“ sagte der junge Mann, wobei er wie zerstreut eine der Rosen ergriff und ihren Duft einathmete – er schien dies aber nur mit den Lippen zu thun.

„Ja, faul bin ich manchmal in der Schule, das ist wahr!“ gab die Kleine ehrlich zu; „aber nicht in der Weltgeschichte – nur im Rechnen und –“

„Und in den Schularbeiten zu Hause, wie Dein Direktor klagt –“

„Ach, was weiß denn der? Solch ein alter Mann, der fürchterlich schnupft und immer nur in der Schule und in seiner engen, schrecklichen Gasse steckt – keine Sonne scheint hinein, und seine Stube ist voll Tabaksqualm wie ein Schlot – der weiß viel, wie Einem zu Muthe ist, wenn man im Dambacher Garten im Grase liegt und – halt, daraus wird nichts! Die wird nicht wegstibitzt!“ unterbrach sie sich, warf ihren geschmeidigen Körper blitzschnell über die Tischplatte hin und haschte nach der Rose, die Herbert, vermuthlich abermals in Folge seiner Zerstreutheit, eben in der Brusttasche verschwinden ließ.

Aber der sonst so beherrschte junge Mann war in diesem Augenblicke kaum wieder zu erkennen. Ganz blaß, die Augen voll Grimm, erfing er die kleine Hand, noch bevor sie ihn berührte, und schleuderte sie von sich wie ein bösartiges Insekt.

Die Kleine stieß einen Schmerzenslaut aus, und auch Reinhold sprang erschrocken von der Bank.

„Holla, was geht denn da vor?“ fragte Herr Lamprecht, welcher dem herbeigeeilten Hausknecht sein Pferd überlassen hatte und eben an den Tisch trat.

„Er darf nicht! Das ist so gut wie gestohlen!“ stieß die kleine Margarete noch unter der Einwirkung des Schreckens hervor. „Die Rosen gehören Fräulein Lenz –“

„Nun, und –?“

„Herbert hat eine weiße genommen und in die Tasche gesteckt – gerade die allerschönste!“

„Kinderei!“ zürnte die Frau Amtsräthin. „Was für abgeschmackte Späße, Herbert!“

Herr Lamprecht sah erhitzt aus, als habe ihm der Ritt das ganze Blut nach dem Kopfe getrieben. Er trat dem jungen Mann schweigend näher und wiegte die Reitpeitsche in seiner Hand; und allmählich umschlich ein überlegenes, verletzend spöttisches Lächeln seinen Mund; er kniff die Augen zusammen und fixirte sein jugendliches Gegenüber von Kopf bis zu Füßen, und es war, als sprängen Funken aus den Lidspalten in das Gesicht des jungen Menschen, der heftig erröthete.

„Lasse ihn doch, Kleine!" sagte Herr Lamprecht endlich mit einem lässigen Achselzucken zu seinem Töchterchen. „Herbert braucht das gestohlene Gut für die Schule – er wird morgen in der botanischen Stunde seinem Professor eine rosa alba vorzeigen müssen.“

„Balduin! –“ die Stimme erstickte dem jungen Mann, als würge eine Hand an seiner Kehle.

„Was befiehlst Du, mein Junge?“ wandte sich Herr Lamprecht mit ironischer Beflissenheit um. „Habe ich nicht Recht, wenn ich behaupte, der bravste Schüler, der ehrgeizigste Streber, der je die Schulbank gedrückt hat, werde vor seinem Abiturienten-Examen schlechterdings keinen anderen Gedanken haben, als die Schule und abermals die Schule? – Geh, büffele nicht so übermäßig! Du bist in der letzten Zeit ganz hohläugig geworden, und Dein bausbäckiges Jungengesicht verliert die Farben; unser zukünftiger Minister aber braucht – Du weißt, wie jeder Minister heutzutage – Nerven von Stahl und ein ganz gehöriges Quantum Eisen in seinem Blute.“

Er lachte spöttisch auf, schlug den jungen Mann auf die Schulter und ging.

„Auf ein Wort, Balduin!“ rief ihm die Frau Amtsräthin nach und nahm zum so und so vielten Mal den immer wieder hingestellten Ständer mit ihrem geliebten Papagei auf.

Herr Lamprecht blieb pflichtschuldigst stehen, obgleich er so ungeduldig aussah, als brenne ihm der Boden unter den Sohlen. Er nahm auch seiner Schwiegermutter den Vogel ab, um ihn zu tragen, und währenddem schoß Herbert wie toll an ihnen vorüber in das Haus, und die steinerne Treppe hallte wider unter den wilden Sätzen, mit welchen er aufwärts stürmte …

„Nun hat Herbert doch Recht behalten!“ murrte Margarete und schlug zornig mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ich glaub’s nicht! Der Papa hat nur Spaß gemacht – Herbert wird wohl dem Professor eine Rose mitbringen müssen! – Dummes Zeug!“

Sie raffte die übrigen Blumen zusammen, wand ihr seidenes Haarband um die Stiele und lief nach dem Packhaus, um den kleinen Strauß über das Holzgeländer zu werfen. Er blieb auf dem Sims liegen, Niemand griff darnach, nicht ein Schein des hellen Muslinkleides wurde sichtbar, noch weniger aber dankte die sanfte, süße Mädchenstimme, „die man so gern hörte“, vom Gange herab. – Mißmuthig kehrte das kleine Mädchen unter den Lindenschatten zurück.

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_007.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2024)