Seite:Die Gartenlaube (1885) 009.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Im „Schlagtodt“. Originalzeichnung von Johannes Gehrts.

Karsten Lehr.
Ein Beitrag zur Geschichte des seemännischen Aberglaubens.
Aus dem Nachlasse von Edmund Höfer.

Das Nachbarhaus meines väterlichen, erzählte mir jüngst ein alter Freund, gehörte in meiner Jugendzeit einem Schiffskapitän Karsten Lehr. Der Mann saß anscheinend recht im Glück. Er war, wo ich mich seiner zuerst entsinne, etwa vierzig Jahre alt und ein fester, schmucker und fixer Gesell, dem es als echtem Seemann jener Zeit allerdings auch nicht an der nothwendigen Portion Wildheit fehlte; Besitzer eines sauberen Hauses, Gatte einer schönen und lustigen Frau, Vater von einem gesunden, frischen Knaben und endlich Eigenthümer und Führer des stattlichsten Schiffs auf diesem Platz, ein Seemann ersten Ranges und ein sogenannter „glücklicher Kapitän“ – es gelang ihm alles.

Es war aber auch hier wieder einmal nicht alles Gold, was glänzt. Karsten hatte seine Eltern früh verloren und war in fast schrankenloser Freiheit und, von Hause aus in den günstigsten Verhältnissen, auf der See herangewachsen. Sehr jung selbständig geworden, hatte er zugleich geheirathet, und die sehr brave junge Frau hatte auf ihn den allerbesten Einfluß geübt, sodaß der wilde Bursche auf gutem Wege war, ein ganz vernünftiger und auch am Lande brauchbarer Mensch zu werden. Dann aber starb sie und auch das Kind unterlag fast zugleich einer ansteckenden Krankheit. Karsten fand bei der Heimkehr von einer Fahrt sein Haus leer und fing wieder an, das Leben auf seine eigene Weise anzugreifen. Er ließ sich fortan daheim nur selten und stets nur auf kurze Zeit sehen, und alles, was man von ihm sah und hörte, zeigte ihn als eine neue Auflage des unbändigen Gesellen, über welchen man vordem den Kopf geschüttelt hatte.

Nach einigen Jahren heirathete er wieder und lebte mit der jungen Frau wieder in Lust und Freuden. Aber es waren andere Menschen und andere Freuden als vordem. Von Zufriedenheit und Einträchtigkeit war zwischen den Gatten nicht viel die Rede, beide gingen ihre eigenen Wege und schienen sich am wohlsten zu fühlen, wenn ein paar hundert Meilen zwischen ihnen lagen. Er fühlte sich daheim augenscheinlich nicht behaglich, sondern langweilte sich sündhaft, und dies mag denn, außer der alten nachbarschaftlichen Verbindung und Anhänglichkeit, Veranlassung für ihn gegeben haben, daß er sich an mich anzuschließen begann, mit mir spielte, Schiffe für mich baute und auftakelte, mit mir allerwärts umherlief, und was dergleichen mehr war. Wir staken immer zusammen und fingen bei der Rückkehr von einer neuen Fahrt genau da wieder an, wo wir bei der Abreise aufgehört hatten.

Als ich siebzehn Jahre alt war, kehrte er nach fast vierjähriger Abwesenheit auf einmal wieder zurück. Er hatte vor Jahr und Tag schon sein Schiff verloren und sich seitdem auf anderen umhergetrieben – wie es fast schien, nur um nicht nach Hause zu müssen. Sein Empfang daheim war allerdings ein wenig erfreulicher. Seine Frau hatte während seiner Abwesenheit ein leichtfertiges Leben begonnen und trat ihm jetzt trotzig und widerspenstig entgegen. Er machte nun allerdings den kürzesten Prozeß von der Welt mit ihr, indem er sie aus dem Hause jagte und diesen Abzug – das malt den unbändigen Gesellen! – von allen Musikanten der Stadt und Umgegend mit einer wahren Höllenmusik begleiten ließ. Aber was hatte er davon? Das schlechte Weib freilich war er los, aber sich selbst behielt er, und das war nichts Gutes. Es war etwas Verkommenes an ihm, leiblich und geistig; er war ruhlos und ausgelassen, unbändig und grimmig und wurde vor allem von einem unlöschbaren Durst geplagt. An mich fesselte ihn noch die alte Neigung, im Uebrigen aber war er ziemlich vereinsamt, denn die alten Bekannten gingen ihm aus dem Wege, und er seinerseits mochte auch von ihnen nichts mehr wissen.

Trotzdem hielt er länger daheim aus, als man erwartet hatte, wenn er auch von Zeit zu Zeit auf einige Wochen verschwand, ohne daß man von seinem Verbleiben etwas erfuhr. Er hatte sein gesammtes Eigenthum zu Gelde gemacht und ein neues stattliches Schiff auf den Stapel legen lassen, dessen Bau er voll Rastlosigkeit betrieb und überwachte. Und als das Fahrzeug endlich fertig geworden war – ich selbst war damals bereits zur Universität abgegangen – fuhr er eines schönen Tags mit großem Prangen davon und – ließ nichts mehr von sich vernehmen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_009.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)