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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Zehn bis zwölf Jahre später hatte ich mich in meinem jetzigen Wohnort, wo mir Verwandte lebten, als Arzt niedergelassen und ging eifrig auf Praxis aus, welche ich denn auch bald, wenn auch begreiflicherweise nicht bei „guten“, sondern unter den kleinen Leuten und besonders unter den Fischern und Bootsfährern, der Patientenzahl nach reichlich genug, fand.

Eines Tages im Herbst hatte ich mich tüchtig müde gelaufen und gedoktert: bei der abscheulichen diesjährigen Witterung standen Wechselfieber und Rheumatismen grade in diesem Quartier in voller Blüthe und selbst der Typhus begann schon zu spuken. Im Vorübergehen wurde ich in eine Schenke am Thor hereingerufen, wo ein Kind des Wirths plötzlich erkrankt war, und als ich fertig war und weiter wollte, regnete und wehte es dermaßen, daß ich von der Thür zurück und vorläufig in’s Gastzimmer trat. Ich bedurfte einer kleinen Stärkung und konnte dieselbe am Ende hier ebenso gut wie anderwärts zu mir nehmen, bis der Schauer vorbeigegangen wäre. Nur saß gerade eine Gesellschaft bei einander, die mir nicht allzu sehr behagte, und ich folgte daher dem äußerst höflichen Wirth ganz zufrieden in ein kleines Hinterzimmer, die „Staatskajüte“, wo ich nur einen Gast finden werde, der mich obendrein nicht belästigen dürfte.

Es war ein kleines, womöglich noch dunkleres Gemach als die Vorderstube; ein Fenster führte auf den engen, dunklen Hof hinaus, das andere auf die Straße, welche hier hart neben dem Hause von dem alten hohen Thore aus ihren Anfang nahm. In der tiefen Ecke zwischen den beiden Fenstern stand ein altes Sopha mit defektem Pferdehaarstoff bezogen, hinter einem schweren Tisch. Dort saß der angekündigte Gast, wirklich ohne anscheinend von mir Notiz zu nehmen. Es war dort übrigens so dämmerig, daß ich kaum mehr als die Masse seiner Gestalt unterscheiden konnte. Ich trat an einen anderen Tisch, der Wirth brachte mir ein Glas Grog und holte vom Sophatisch eine offene Cigarrenkiste herüber. Und dann blieb ich mit dem Stummen allein. Ich probirte den Grog und zündete eine Cigarre an – Beides war tadellos! – und nahm den „Hamburger Korrespondenten“ auf, der auf meinem Tische lag.

Nach einer Weile sagte plötzlich eine rauhe Stimme hinter mir: „Mit Erlaubniß, Sir, sind Sie der neue Doktor, der hier so viele Leute kurirt?“ – Ich erhob den Kopf rasch, denn es war in der Stimme für mich etwas Bekanntes. Er hatte sich aufgerichtet und vornüber gegen den Tisch gelegt, sodaß er mehr im Hellen saß. Allein auch so blieb der Schatten noch zu dicht, als daß von einem eigentlichen Erkennen hätte die Rede sein können. Nur sah ich, daß der größte Theil der linken Gesichtshälfte durch eine breite schwarze Binde verdeckt wurde. Das freie Auge blickte mich aber dafür desto schärfer an. – „Ja,“ versetzte ich, „der bin ich und habe hier leider viel zu thun.“ – „Es ist ungesunde Zeit,“ sagte er, die Achseln zuckend, und fuhr fort: „Ihr Gesicht, Sir, erinnert mich an einen Jungen – seine Eltern wohnten in G. und er hieß Alfred Schwarz –.“ – „Sie nennen meine Eltern und mich,“ sprach ich überrascht, und da kam er hinter dem Tisch hervor und rief: „Wirklich? Alfred Schwarz?“ – Der Arzt hatte in solchen Kreisen fast niemals einen Namen, sondern wurde kurzweg „der Doktor“ geheißen. – Und nun stand er vor mir, schaute mich fest an und hob langsam die Hand gegen mich. „Junge, kennst Du mich nicht mehr?“

Ich sah ihn aufmerksam an. Die Stimme klang, wie gesagt, bekannt, und in den Zügen war gleichfalls etwas, was mir nicht fremd erschien, aber an jemand Bestimmtes fand ich keine Erinnerung. Meine Hand lag in der seinen, aber ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht,“ sagte ich zögernd. – „Und haben doch so manches liebe Mal die Schlacht bei Navarin als getreue Maaten durchgefochten!“ – erwiderte er beinah vorwurfsvoll. Und da schoß es in mir auf – „Karsten Lehr?“ rief ich. – Hier, wo ich eben von ihm sprach, ist die Verbindung freilich eine nahe und natürliche, aber für mich und in Wirklichkeit war es doch anders: ich hatte seit Jahren an den alten Menschen mit keinem Gedanken mehr gedacht!

„Pst, mein Junge, man sagt das hier nicht so laut!“ versetzte er mit einer Art von Lachen, welches zu dem halben Gesicht, denn mehr sah man ja kaum, seltsam genug stand. „Der ist lange todt, meinen sie, und würden einen schönen Schreck kriegen, wollte er doch noch wieder kommen! Ich bin der Karsten Müller, der damals bei uns einwinterte – Du kennst ihn gut? – Komm’, setze Dich dort zu mir in den Schatten, das todte Auge thut mir weh – Gott verdamm’s!“

Solche Worte und Weise machten ihn mir glaubhafter, als sein Aeußeres, denn mit ihnen stand er leibhaftig vor mir, wie vor zehn Jahren, während das letztere mir zweifelhaft blieb. Wer nicht seinen Namen hörte oder von seiner Nähe wußte, hätte ihn, glaub’ ich, niemals wieder erkannt. Das lag aber nicht bloß in der großen Entstellung des Gesichts, sondern auch die gesunde Partie stimmte nirgends recht zu meinem Karsten Lehr. Und selbst wenn ich an die sicherlich nicht zahmen zehn Jahre dachte, um die er älter geworden war – er mußte jetzt über Sechzig zählen! – so kam der frühere Karsten dennoch nicht wieder hervor. Es war fast, als habe die Verwundung auch die andere Gesichtshälfte annähernd gelähmt, sodaß sie innere Regungen kaum noch widerzuspiegeln vermochte. Nur im Auge war noch volles, rasches Leben.

Er hatte sich in die Ecke gedrückt, aber sein Auge begegnete scharf dem meinen, mit einem Blick, als mache unser Zusammentreffen ihm wirklich Freude und stimme ihn fast weich. „Stoß an, Junge!“ sagte er und hielt sein Glas entgegen, „ich merk’s, Du traust mir noch immer nicht recht, aber ich bin’s! Stoß an! Mit Dir lebte sich’s gut, es war eine lustige Zeit! Und nun lasse mich von allem hören – es ist hinter mir alles aus und zu Ende.“ Und als eben der Wirth hereinkam und uns ganz verdutzt bei einander sah, fügte er hinzu: „Um den genir’ Dich nicht, Junge. Christopher ist einer von den Alten und weiß Bescheid. Bring’ uns noch ’n Glas, Alter! Den da habe ich vordem auf den Armen getragen.“

Ich zuckte die Achseln und fügte mich. Karsten lebte immer deutlicher vor mir auf: Plaudern ohne Trinken war nichts für ihn, und Widerspruch reizte ihn. Also saß ich und erzählte und that’s mit wachsender Lust, denn der Alte war voll reger Theilnahme, noch überall zu Haus und jetzt von bester Laune. Erst als ich auch nach seinen Schicksalen fragte, wurde er verdrießlich. Er sei immer der „wilde Racker“ geblieben, meinte er, und habe sich, als er das Leben satt gekriegt, hier eingethan, wo keiner von ihm und er von keinem etwas wolle. Als ich endlich aufbrach, redete er von baldigem Wiederkommen. „Der Name schreckt Dich doch nicht?“ fügte er hinzu. – „Was für ein Name?“ fragte ich verwundert. – „Ei nun, sie heißen das Nest hier den ,Schlagtodt‘, und die Hasenfüße laufen, wo sie’s nur von ferne sehen, davon, als führe ihnen schon ein Messer in die Rippen. Aber komm’ Du nur. Es geht hier bei mir ganz solide zu, und Christopher hat allerhand im Raum, wo selbst unsereiner alle zehn Finger ’nach leckt. Komm, Junge, wollen heut’ Abend ’mal hinten ausschlagen! Was sollt’ ich schlecht leben – ich habe ja doch nichts!“

Am andern Morgen sprach ich schon früh im Hause vor, um nach meiner Patientin zu sehen. Karsten war nicht da. „Der kommt nie vor zehn Uhr,“ meinte der Wirth, „dann aber sicher.“ – „Lebt er hier ganz allein und wie bringt er sich durch?“ fragte ich. – „Mutterseelenallein, Herr! Und mit dem Durchbringen; – na, viel wird nicht da sein, aber für ein paar Jahre reicht’s ja wohl noch. Und länger –,“ setzte er achselzuckend und abgebrochen hinzu – „na, Herr, ich traue ihm nicht recht. Es möchte ’mal fix mit ihm aus sein.“

Dergleichen hatte ich gestern gleichfalls schon für mich selber gedacht, und was ich in der nächstfolgenden Zeit an dem alten Menschen beobachtete, bestärkte mich in meiner Anschauung. Solche bärenhafte Naturen halten sich, zumal bei ihrer gewohnten Weise, lange; kommen sie aber einmal in’s Bröckeln und giebt’s obendrein noch gar eine Veränderung in ihrer Lebensweise, so geht es meistens auch desto rascher zu Ende. Und für Karsten war diese Veränderung leicht möglich in schroffester Weise und von heut zu morgen eingetreten, aus dem buntesten Leben zum allereinförmigsten, von der See zum Lande, von rastloser Geschäftigkeit bis zur vollsten Unthätigkeit – ein Wechsel, wie ihn niemand leicht überwindet, und der hier am allerwenigsten. Denn ich hatte genug gesehen, um zu erkennen, daß nicht bloß seine Konstitution ernstlich erschüttert war, sondern daß auch, um mich so auszudrücken, mit dem inneren Menschen etwas vorgegangen sein mußte und vielleicht noch immer vor sich ging, was ihn mehr und mehr aufrieb. Es schäumte und sprudelte zuweilen noch einmal in ihm auf, aber nur um ihn desto schneller in ein gewisses

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verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 010. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_010.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)