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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


finsteres Grübeln und eine Zerstreutheit zurücksinken zu lassen, welche manchmal eine verzweifelte Aehnlichkeit mit völliger Gedankenlosigkeit hatte. Ob dies mit früheren Erlebnissen zusammenhing, wurde nicht klar. Er redete, gegen früher, jetzt überhaupt auffällig wenig über sich und sein Treiben, und besonders über die letzten Jahre auf der See ersichtlich ungern, aber nicht etwa, weil ihm dabei das Eine oder das Andere unheimlich geworden, sondern augenscheinlich nur, weil es ihm langweilig war. Zuweilen erzählte er aber auch mit seiner ganzen alten Unbefangenheit und Naivetät. Er hatte auf einem englischen Kriegsschiff den Krieg gegen China mitgemacht und war auf einem andern um die Erde gefahren. Dabei hatte er in einem Gefecht mit malayischen Seeräubern das Auge verloren. Und so hörte ich noch dies und jenes, aber - es war sicher noch nicht das Rechte.

Eines Tages um Weihnachten, wo das Wetter so rauh und der Tag so grau waren, wie bei unserer ersten Begegnung, saß ich auch wieder bei ihm und plauderte, so gut es gehen wollte. Er war aufgeregt und hatte, auf meine Frage, über eine gewisse Steifheit oder Lahmheit geklagt, welche jede Bewegung erschwerte. Er lief trotzdem aber rastlos umher, fast als wolle er sich nur stets auf’s Neue von der fatalen Empfindung überzeugen, und verdammte voll Energie den „Rheumatismus“, das Leben am Lande, die Landratten, uns Aerzte und den nichtsnutzigen Rest des alten Karsten - es war alles keinen Schuß Pulver werth. Ich hatte mich mit meinem Glase an’s Straßenfenster gesetzt, wo sich alles beobachten ließ, was in’s Thor herein kam, während kleine Vorsetzer den Beobachter für die Passanten unsichthar machten. Heut, bei dem schmutzigen Wetter, war freilich wenig oder nichts zu sehen, denn jedermann blieb zu Hause.

Indem trat aber gleich eine ganze Gesellschaft aus dem Thore hervor - ein ältlicher Mann, der Kapitän eines größeren Handelsschiffs, voraus, achtbar von Kopf zu Füßen, groß, hager, ein wenig gebeugt, hinter ihm zwei flotte Matrosen mit Gepäck, und als vierter, gleichfalls beladen, ein schon grauköpfiger Neger. Sie waren augenscheinlich erst vor kurzem angelangt und suchten ein Unterkommen. Der Führer machte Halt und redete einen Vorübergehenden an, die Matrosen schauten sich neugierig um, und der Neger schüttelte sich vor Frost und schnitt ein Gesicht, daß ich lachen mußte.

„Der wundert sich, daß hier noch Menschen leben!“ sagte ich.

„Wird sich bald noch mehr wundern,“ meinte Christopher, der hereingekommen war und bei mir stand. „’s ist ein Amerikaner, hör’ ich, heut’ Morgen mit schwerer Havarie binnen gekommen; will nach Reval. Geht’s noch? Was meinst Du, Karsten?“

Ich hatte vor den Fremden nicht an den Alten gedacht, aber auch nichts von ihm gehört, und da ich jetzt nach ihm aufschaute, hockte er auf der Sophalehne, hart vor mir, die Hände zu Fäusten geballt und das Auge noch finster auf den Punkt geheftet, wo der Fremdling eben ein paar Sekunden lang Halt gemacht hatte. Auf Christopher’s Frage wandte er diesem grade langsam den Kopf zu, sah ihn zerstreut an und sagte dann in ebensolchem Ton: „Reval? Hm! - Amerikaner? Weißt Du mehr von ihm? - „Casper war draußen und hat ihn einlaufen sehen,“ lautete die Antwort. „‚Drei Brüder‘ von Baltimore, Kapitän Webster.“ - „Hm, so? Dachte zuerst, kenne ihn - Unsinn, ist lange todt! - Will mich ’mal nach dem Schiff umsehen.“ - Und nach diesen abgerissenen Worten rutschte er von seinem Sitz herunter, strich mit beiden Händen hart über den Rücken nieder und grollte. „Gott verdamme den infamen Rheumatismus! Christopher, ein neues Glas!“

Am nächsten Tage fehlte Carsten, ein unerhörter Fall, der selbst den Wirth verblüffte. Bleibe der Alte länger aus, wolle er nach ihm sehen lassen, meinte er, einstweilen werde es noch nichts zu sagen haben. Carsten habe gestern Abend nach einer schweren Sitzung mit ein paar Andern den „Rheumatismus“ nach seiner Behauptung „untergekriegt“ und möge sich heut, bei dem hellen Morgen, wohl einmal draußen nach dem „Amerikaner“ umsehen. „Der liegt ihm am Herzen, merkte ich!“ fügte Christopher kopfschüttelnd hinzu.

(Fortsetzung folgt.)




Die Nihilisten.[1]
Von Johannes Scherr.
I. Alexander der Zweite und die Reform.
1.

Der Zar Nikolai starb am 2. März von amtlichen Berichten zufolge stramm, wie er gelebt, ruhig und gefaßt dem Ende entgegensehend. Jedenfalls ist er gestorben als ein Mann von Ueberzeugung und Princip, vielleicht der letzte Despot, welcher an sich und an den Despotismus glaubte. In Russland wurde ihm diese Grabrede geschwiegen: „Gut, daß er todt! Länger hätte es so nicht weitergehen können.“

Wären die Zügel nicht dem starken Zügelhalter entglitten, würde es, allem liberalen Gezischel und revoluzischen Gemunkel zum Trotz, wohl noch länger so weitergegangen sein. Jetzt aber, als der konsequente und willenskräftige Selbstherrscher verschwunden, kam das ganze Gebäude des Despotismus ins Schwanken und Wanken. Es zeigte sich jetzt, wie tief dasselbe durch die verfemte Zeitströmung seit Jahren heimlich unterhöhlt worden war, und nun dieser Strömung plötzlich Licht und Luft gegönnt wurden, suchte sie sich mit derselben Gewaltsamkeit Bahn zu brechen, womit man sie so lange hintangehalten hatte.

Nicht als ob diese Gewaltsamkeit sofort mit dem Regierungantritt Alexanders des Zweiten ihre ganze Kraft, beziehungsweise ihre ganze Wuth entwickelt hätte. Nein! Es läßt sich ja die Regierungszeit dieses Zaren ziemlich scharf in zwei Perioden scheiden, deren erste, die 60ger Jahre umfassend, als die Zeit der reformistischen Strebungen, Versuche und Vollbringungen, deren zweite, die 70ger Jahre mit Einschluß der Märzkatastrophe von 1881 enthaltend, als die Zeit der revoluzischen Komplotte und Attentate gekennzeichnet werden kann.

Dem Glauben, daß mit der Throngelangung des neuen Zaren eine neue Epoche für Russland angebrochen sei, gab von London her Alexander Herzen kühnen Ausdruck. Er richtete an den zweiten Alexander ein Sendschreiben, in welchem das autokratische Regiment gebrandmarkt, ein offener und ehrlicher Bruch mit diesem System allgemeiner Vergewaltigung und Knechtung gefordert, die Aufnahme der zeitbewegenden Ideen in die russische Staatsverwaltung angerathen und als unbedingte Voraussetzung einer wirklichen Entwicklung Russlands die Aufhebung der bäuerlichen Leibeigenschaft hingestellt wurde.

Kein Zweifel, Herzens Mahnruf hat nur in warmblütige und energische Worte gekleidet, was alle denkenden, unterrichteten, redlichen und unabhängigen Russen fühlten. Der beredsame Exulant formulirte nur, was die Besten der Nation im Stillen schon lange gewollt und gewünscht hatten. Daher die ungeheure Wirkung von Herzens offenem Brief. Der Schreiber desselben wurde mit einem Schlag eine Macht, wurde der anerkannte Prophet und Führer der öffentlichen Meinung, die sich, sobald Zungen und Federn einigermaßen sich regen und rühren durften, mit überraschender Schnelligkeit bildete. Mit nur allzu großer Schnellfertigkeit. Denn auch hier wieder trat das Unvermittelte, Sprunghafte, Voreilige, welches dem modernen Russenthum anhaftet, unliebsam, ja schädlich und gefährlich zu Tage. Die unflügge öffentliche Meinung wollte laufen, bevor sie kriechen konnte, wollte fliegen, bevor ihr die Schwingen gewachsen waren. Sie verlangte stürmisch, daß alles schon fertiggestellt sei, bevor noch etwas vorbereitet war. Ohne sich bei der Erwägung aufzuhalten, daß es wohl eine der schwierigsten Aufgaben der Staatskunst wäre, den Uebergang vom Nikolaismus zum Konstitutionalismus in wahrhaft gedeihlicher Weise zu bewerkstelligen, verlangte sie ungestüm alles auf einmal und überließ sich dem Wahnglauben, es bedürfte an höchster Stelle nur guten Willens, um die große Umgestaltung wie im Handumdrehen zu bewirken.

  1. Aus der Handschrift eines Buches, welches im Frühjahr 1885 erscheinen wird. Die Noten, welche im Manuskript den Text begleiten (Quellenangaben, Belegstellen, kritische Erörterung u. s. w.), sind hier weggelassen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_011.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)