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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


und es soll mir auch schon genügen, wenn die Stimme nicht mehr über den Hof schallt und das Hin- und Herschweben der kleinen Kokette auf dem Gange ein Ende hat. Es giebt ja genug Miethwohnungen für kleine Leute in der Stadt.“

„Sie meinen, ich soll den Mann Knall und Fall aus seinem stillen Asyl vertreiben, weil – nun weil er so unglücklich ist, eine schöne Tochter zu haben?“ Seine Augen blitzten die alte Dame an – ein düsteres Feuer glomm in ihnen auf. „Würden nicht alle meine Leute glauben, Lenz habe sich Etwas zu Schulden kommen lassen? Wie dürfte ich ihm das anthun? Das schlagen Sie sich nur aus dem Sinn, Mama, das kann ich nicht!“

„Aber mein Gott, Etwas muß doch geschehen! Das kann und darf nicht so fortgehen!“ rief sie in halber Verzweiflung. „Da bleibt nur nichts Anderes übrig, als selbst zu den Leuten zu gehen und dahin zu wirken, daß das Mädchen abreist. Auf ein Geldopfer, und sei es noch so bedeutend, soll es mir dabei nicht ankommen.“

„Das wollten Sie in der That?“ – Etwas wie ein geheimes Erschrecken klang in seiner tonlosen Stimme mit. „Wollen Sie sich lächerlich machen? Und vor Allem, wollen Sie mit diesem auffallenden Schritt auch mein Ansehen als Prinzipal in den Augen Aller schädigen? Soll man denken, von Ihrem Privatinteresse hänge das Wohl und Wehe meiner Leute ab? Das kann ich nicht dulden“ – und er hielt inne; er mochte wohl fühlen, daß er zu heftig für empfindliche Damenohren wurde. – „Es ist mir stets eine Freude und Genugthuung gewesen, meine Schwiegereltern im Hause zu haben,“ setzte er beherrschter hinzu, „und das Gefühl der unumschränkten Herrschaft in Ihrem Heim ist Ihnen gewiß niemals beeinträchtigt worden; ich habe wenigstens zu allen Zeiten streng darauf gehalten, daß keines der Ihnen zugestandenen Rechte auch nur um ein Jota verkümmert werde. Dafür verlange ich aber auch, daß kein Uebergriff in mein Departement stattfindet. Verzeihen Sie, liebe Mama, aber darin verstehe ich keinen Spaß; ich könnte da vielleicht sehr unangenehm werden, und das wäre für beide Theile nicht wünschenswerth!“

„Bitte, lieber Sohn, Du steigerst Dich in ganz unmotivirter Weise!“ fiel die Frau Amtsräthin kühl, mit einer vornehm abwehrenden Handbewegung ein. „Und im Grunde ist es ja doch nichts als eine Laune, die Du so hartnäckig verfichtst – ein anderes Mal wird es Dir vollkommen gleichgültig sein, ob der Herr Maler Lenz sammt Familie ein Dach über dem Haupte hat oder nicht – dafür kenne ich Dich! Nun immerhin! Selbstverständlich bin ich die Nachgebende. Vorläufig werde ich freilich gezwungen sein, fortwährend auf Wachtposten zu stehen, und keine ruhige Stunde mehr haben –“

„Da seien Sie ganz ruhig, Mama! Sie haben an mir den besten Verbündeten,“ sagte er unter einem sardonischen Auflachen. „Mit den nächtlichen Promenaden und schwülstigen Sonetten hat es ein Ende – mein Wort darauf! Wie ein Büttel werde ich dem verliebten Jungen auf den Fersen sein, darauf können Sie sich verlassen!“

Draußen wurde die Flügelthür geräuschvoll geöffnet, und trippelnde Schritte kamen über den Saal.

„Dürfen wir hereinkommen, Papa?“ rief Margaretens Stimmchen während ihre kleinen Finger kräftig anklopften.

Herr Lamprecht öffnete selbst die Thür und ließ die beiden Kleinen eintreten. „Na, was giebt’s? Das Dietendörfer Gebäck habt Ihr gestern aufgegessen, Ihr Leckermäuler, und das Naschkästchen ist leer –“

„Ach bewahre, Papa, das wollen wir gar nicht! Heute giebt’s Napfkuchen unten!“ sagte das kleine Mädchen. „Tante Sophie will nur den Schlüssel haben – den Schlüssel zu der Stube hinten in dem dunklen Gange, die immer zugeschlossen ist –“

„Und wo die Frau aus dem rothen Salon vorhin in den Hof hinunter gesehen hat,“ vervollständigte Reinhold.

„Was ist das für ein Kauderwälsch? Und was soll das unsinnige Gewäsch von der Frau aus dem rothen Salon?“ schalt Herr Lamprecht mit barscher Stimme, ohne jedoch ein gewisses beklommenes Aufhorchen verbergen zu können.

„Ach, das sagt die dumme Bärbe nur so, Papa! Die ist ja so schrecklich abergläubisch,“ entgegnete Margarete. . . . Und nun erzählte sie von dem, was sie am Fenster gesehen haben wollte, von dem großen rothblumigen Bouquet in dem verschossenen Vorhang, das sich plötzlich zu einem breiten, dunklen Spalte auseinander gethan, von den schneeweißen Fingern und der Stirn mit den hellen Haaren, und wie Tante Sophie dabei bleibe, die Sonne sei es gewesen, was doch gar nicht wahr sei – und Herr Lamprecht wandte sich seitwärts und griff nach dem hingeworfenen Miniaturbändchen, um es wieder auf das Bücherbrett zu stellen.

(Fortsetzung folgt.)

Die Nihilisten.

Von Johannes Scherr.
II. Die Propheten des Nihilismus.
1.

Ihre größte Reformthätigkeit entwickelte die russische Regierung in der Zeit von 1861 bis 1865: – Aufhebung der Leibeigenschaft, Einführung der Kreis- und Provinzialstände in 35 Provinzen, Gerichtsverfassung mit Oeffentlichkeit und Mündlichkeit, Pressefreiheit für Moskau und Petersburg.

Um diese Beschränkung ihrer Freigebung auf die beiden Hauptstädte kümmerte sich aber die russische Presse ganz und gar nicht und eine geraume Weile ließ man sie gewähren. Sie hat sich ihrer Freiheit in einer Weise bedient, welche zu dem Wahrspruch berechtigt, daß kaum jemals knäbische Unreife und greisenhafte Ueberreife so widerlich mitsammen verbunden gewesen wie hier.

Man hätte doch erwarten sollen, daß in dieser Sturm- und Drangzeit Russlands die Literatur eine vielleicht etwas rohe Gesundheit, immerhin aber eine energische Jugendfrische kundgäbe. Bewahre! Nichts als krampfhaft überreizte Kritik, nörgelnde Blasirtheit, größenwahnwitzige Einbildung, gewaltsam aufgespannte Impotenz. Selbst beim weitaus begabtesten russischen Schriftsteller dieser ganzen Periode, beim Iwan Turgénjew, niemals ein voller Hauch jugendfreudiger Schöpfungslust, kein wohlthuender Laut der Menschheittrösterin Poesie, sondern überall nur ein fataler, alles durchdringender, bleischwer auf die Nerven sich lagernder Fäulniß- und Modergeruch. Wehe über Russland, wenn Turgénjew ein Dichter im Sinne der Alten, ein vates, ein Seher und Zukunftsahner gewesen wäre! Wie trostlos müßte dann die Zukunft des russischen Volkes sein!

Und doch war der „Realist“ Turgénjew, der Grau-In-Grau-Maler, noch ein Idealist und Optimist, verglichen mit der jüngeren Schriftstellergeneration der Tschernyschewski, Pisarew, Schelgunow, Sokolow, Dobroljubow, Saizew und Konsorten. In den Stilübungen dieser Leute machte sich der ödeste Materialismus breit und saß der souveräne Dünkel des Unverstandes und der Unwissenheit über Recht und Sitte, über Literatur und Kunst, über alle Errungenschaften der Civilisation zu Gericht. Diese Propheten des Nihilismus haben unter anderem auch jenen westeuropäischen Kathedrariern, welche, um, koste es was es wolle, mittels neuen „Fünden“ Aufsehen zu erregen und nebenbei das unsern lieben Zeitgenossen so unbequeme Princip der Verantwortlichkeit aus der Welt zu schaffen, das Verbrechen zu einer im Bau des Gehirns begründeten Naturnothwendigkeit umlogen, ihren Ruhm vorweggenommen.

Denn sie orakelten ja, Laster und Verbrechen im herkömmlich moralischen Wortsinne gebe es eigentlich gar nicht. Da nur physische, chemische und physiologische Lebensbedingungen existirten, so sei das Thun und Lassen der Menschen immer und überall nur eine unausweichliche und folglich berechtigte Schlußfolgerung aus dieser Voraussetzung.

Die Ehe? Eine Ungerechtigkeit gegenüber den ledigen Frauenzimmern. Die Familie? Eine reine Absurdität. Die Erziehung? Bah, es ist „infam“, den Willen des Kindes zu brechen, „in die intellektuelle Sphäre eines andern Wesens eingreifen zu wollen“, und es ist „irrationell“, Kindern die sogenannte sittliche Reinheit und Unschuld so lange als möglich erhalten zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_026.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2024)