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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

wollen“. Mord? Ja, der Mörder muß eben morden, sein zu kurzer Hintergehirnlappen zwingt ihn dazu. Diebstahl? Als ob nicht Proudhon zufolge alles Eigenthum auch Diebstahl wäre! Jedennoch mögen Diebstahl, Raub, Betrug und Fälschung als „inopportun“ bezeichnet werden, sofern nämlich der Dieb, Räuber, Betrüger oder Fälscher so dumm ist, sich erwischen zu lassen.

Wie allbekannt, hat dieser vonseiten „kolossal entwickelter“ Wortführer aufgestellte „zeitgemäße“ Moralkodex die entsprechenden Früchte getragen, namentlich auch in Gestalt von Verdikten der russischen Herren Geschworenen.

Wie verwildernd die zerstörerischen Theorieen der Nachschwätzer ihres von „Allzerstörung“ und „Allgestaltlosigkeit“ faselnden Vorschwätzers Bakunin auf die russische Jugend, insbesondere auf die sogenannte studirende, wirken mußten, begreift sich leicht. Es schmeichelte ja Schwachköpfen von nichtstudirenden Studenten, zu vernehmen und zu glauben, mittels anmaßlichen Raisonnirens und Kritisirens vermöge man sich, der Mühe des Lernens überhoben, leicht und rasch auf die Höhe „zeitgemäßester Entwickelung“ zu schwingen. Von dieser eingebildeten Höhe herab verkündeten zum Jubel einer hoffnungsvollen Studentenschaft die oben genannten Orakler unter anderen diese „wissenschaftlichen Fünde“: – Puschkin war ein so kolossal unentwickelter Mensch, daß er noch die Ehre als ein sociales Motiv statuirte. Shakspeare machte sich mit lauter Dummheiten zu schaffen. Voltaire und Montesquieu sind nur wegen ihrer Bornirtheit allenfalls bemerkenswerth, wie nachmals Macaulay. Göthe war ein Schmarotzer, Schiller ein Philister. Und so weiter in der Litanei des Blödsinns.

Daß die russische Jugend in großer Anzahl diese Litanei zu ihrem Kredo machte, daran hatte das unheilvolle Experimentiren der Regierung mit Erziehungsmethoden und Unterrichtssystemen nicht geringe Schuld. Verhängnißvoll, weil dem Materialismus kräftigsten Vorschob leistend, mußte vor allem die jahrelang sinnlos einseitig betriebene Bevorzugung der sogenannten realistischen Disciplinen wirken. Die russische Regierung verkannte ganz und gar die große Wahrheit, daß die einzige, schlechthin unersetzliche Grundlage aller gediegenen und wesentlich-humanen Bildung das Studium der alten Sprachen und die Kenntniß der klassischen Literatur ist und, allen Banausiern und Böotiern zum Trotz, auch bleiben wird, so lange es überhaupt eine höhere und höchste Geisteskultur gibt. Sie begünstigte daher die sogenannten Realien und unter diesen wiederum einseitig die Naturwissenschaften.

Die Folgen traten an russischen Gymnasien und Hochschulen bald erschreckend zu Tage. Grasgrüne Bursche, welche einen blassen Hochschein von physikalischen Rudimenten und chemischen Verbindungen hatten und todte Frösche zu galvanisiren und lebende Kaninchen „wissenschaftlich“ zu Tode zu martern verstanden, hielten sich für so „kolossal entwickelt“, daß sie berechtigt wären, über alles und jedes abzusprechen und befähigt, im Handumdrehen den Staat zu demoliren und die Gesellschaft zu „anarchisiren“. Alles, natürlich, nach der Schablone vom langen Bakunin und seinen gefährlichen Mitnarren.

Ein charakteristisches Merkmal dieser unreifen Weltverbesserer war der Haß, womit sie auf die geschichtlichen Studien blickten. Begreiflich! Das Buch der Geschichte widersprach ja auf jeder seiner Seiten den größewahnwitzigen Phantastereien solcher Nichtse, welche von historischer Entwickelung nichts wußten und nichts wissen wollten. Wissenden aber ist wohlbekannt, daß nur der ein durchgebildeter Mensch zu heißen verdient, welcher von dem geschichtlichen Lebensgang seines eigenen Volkes und der Menschheit eine klare Vorstellung besitzt. Wem dieselbe fehlt, der mag ja in seinem Specialfach ein recht tüchtiger, brauchbarer und nützlicher Mensch sein; aber über die höchsten Probleme, über politische und sociale Fragen sollte er keine Reden halten, sondern nur das Maul.


2.

Zu Anfang des Jahres 1875 wurde im Auftrage des damaligen russischen Justizministers, des Grafen Pahlen, auf Grund amtlicher Erhebungen eine für den Zaren, den Großfürsten-Thronfolger und die höchsten Staatswürdenträger bestimmte Denkschrift über den Nihilismus und dessen Verbreitung verfaßt.

Die Bedeutung dieses „ältesten officiellen“ Dokuments über die nihilistische Bewegung braucht nicht hervorgehoben zu werden. Bemerkenswerth aber ist, daß darin die Ausdrücke „Nihilismus“ und „Nihilisten“ noch nicht gebraucht sind, sondern nur von „Revolutionären“ und „Anarchisten“ die Rede ist. Und doch war das Hauptwerk der nach dem Tode des Zaren Nikolai in Russland aufgekommenen sogenannten „Anklageliteratur“, Turgénjews Roman „Väter und Söhne“, schon 1861 erschienen, ein literarisches nicht nur, sondern auch sociales Ereigniß für Russland. Da hatte der berühmte Novellist den Begriff des Nihilismus, d. h. Idee und System einer allgemeinen und unbedingten Verneinung, entwickelt und den Typus eines Nihilisten (Bazarow) zuerst hingestellt. Seither waren dann die Bezeichnungen Nihilismus und Nihilisten, zu deutsch Nichtsheit und Nichtser (vom lateinischen nihil, russisch nitschewo), dem europäischen Sprachschatze einverleibt worden.

Alexander Herzen beanspruchte jedoch in einem Aufsatz im „Polarstern“ von 1869, worin er Turgénjews Helden zergliederte, für den Nihilismus ein höheres Alter, indem er den Nachweis unternahm, daß der bekannte Kritiker Bielinski schon zu Anfang der 40ger Jahre, der Commis Voyageur der „Universalrevolution“ Bakunin schon 1848, der „Verschwörer“ Petraschewski schon 1849 richtige Nihilisten gewesen seien. Bei derselben Gelegenheit bestimmte Herzen den Nihilismus als „die absolute Freiheit von allen fertigen Begriffen, von allen überkommenen Hemmnissen und Störungen, welche das Vorwärtsschreiten der abendländischen Intelligenz mit ihrem historischen Klotz am Fuße aufhalten und hindern.“

Die praktische Anwendung dieser Definition auf Leben und Gesellschaft hatte um mehrere Jahre früher schon, als sie gegeben wurde, Nikolai Tschernyschewski zu lehren unternommen mittels seines „mit wenig Witz und viel Behagen“ geschriebenen, breitspurig langweiligen Romans „Was thun (Tschto djelat)?“, auf welchen darum die vorhin erwähnte geheime Denkschrift nachdrucksam hinwies. Mit gutem Grund. Denn dieses inhaltlich und stilistisch gleich schlechte Buch übte einen so großen Einfluß auf die verstand- und urtheilslose Menge der Unzufriedenen und revoluzisch Gesinnten in Russland, daß es eine geraume Weile geradezu für das Lehrbuch des Nihilismus gelten konnte.

„Was thun?“ Der Aufwerfer dieser Frage suchte selbige dadurch zu beantworten, daß er es unternahm, das Bild eines Staates zu entwerfen, wie sich ein solches in seinem kranken Gehirne spiegelte. Also das Bild eines zukünftigen Unstaats, d. h. einer Gesellschaft, die, völlig losgebunden von Gesetz und Sitte, aller Wonnen unbedingter Anarchie sich zu erfreuen hätte. Weil sich Tschernyschewski der Begabung eines Morus („Utopia“), Campanella („Civitas solis“) oder Cabet („Voyage en Icarie“) nicht rühmen konnte, fiel, wie schon erwähnt, seine anarchistische Traumbildnerei sehr langweilig aus. Aber er hat das Verdienst, die heimlichsten Gedanken, Absichten und Wünsche des Nihilismus kundgemacht und allen Menschen von fünf gesunden Sinnen gezeigt zu haben, wie es in der hochgelobten Anarchie zu- und hergehen würde und müßte. So, daß anständige Menschen jedenfalls lieber in einer der „Bolgen“ von Dante’s Hölle leben möchten als in solchem Zukunftsparadies.

Es ist recht kennzeichnend, daß die Figuren, welche Tschernyschewski als Träger der nihilistischen Ideen auftreten läßt, entweder Lumpe oder Schufte oder Narren sind. Auch an entsprechenden Lumpinnen fehlt es natürlich nicht, d. h. nicht an „Normalweibern“ im Sinne des Autors. Und, wohlverstanden, dieses Pack stellt er als Idealtypen der Zukunft hin, als „riesig entwickelte“ Muster und Vorbilder, welchen, nebenbei bemerkt, alles Wissen nur so anfliegt, ohne daß sie sich mit dem dummen Lernen abzugeben brauchen. Als einen Ur- und Erznihilisten, welcher die höchste Höhe der „Vorurtheilslosigkeit“ erklommen hat, führt Tschernyschewski einen Kraftkerl Namens Rachmetow vor, welcher es für etwas eines „entwickelten“ Menschen Unwürdiges und Unberechtigtes erklärt, so einer eine Frau oder eine Geliebte für sich allein haben will. Man könnte diesen Rachmetow für eine satirisch ins Verrückte gesteigerte Karikatur von Turgénjews Bazarow halten. Allein der Verfasser von „Was thun?“ will seinen Helden, welcher sich mittels allerhand Kraftübungen, insbesondere mittels Verschlingens „nahezu roher“ Beefsteaks, auf seine nihilistische „Mission“ vorbereitet, durchaus ernsthaft genommen wissen. Im übrigen geht er systematisch darauf aus, in seinen Lesern die Begriffe Gewissen und Pflicht zu zerstören und die Unterscheidung von gut und bös völlig zu verwischen. Item wendet er viel tiftelnde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_027.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2024)