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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

störten ihn, er könne sie nicht brauchen. An die hübschen Papierschiffchen war nicht mehr zu denken, ebenso wenig an das Erzählen von Märchen und anderen schönen Geschichten – der Papa sprach lieber mit sich selber, man konnte es nur nicht verstehen, es war blos gemurmelt. Er fuhr sich auch manchmal mit beiden Händen durch die Haare und stampfte mit dem Fuße auf, und wußte wohl gar nicht mehr, daß die Kinder da waren; und wenn er sich dann besann, da stopfte er ihnen schnell die Taschen und Hände voll süßer Sachen und schob sie zur Thür hinaus, weil er schreiben, viel schreiben müsse ... Ja, das dumme Schreiben – man konnte es schon deswegen nicht ausstehen! Und nach all diesen deprimirenden Reflexionen mit ihrem haßerfüllten Schlußgedanken wurde die Feder zornig tief ins Tintenfaß getaucht, und da lag der allerschönste Klex auf dem Papiere!

„Du Unglückskind!“ schalt Tante Sophie und kam schleunigst herüber. Das Löschblatt war zur Hand, aber beim Suchen nach dem Radirmesser mußte Gretel kleinlaut eingestehen, daß der Herr Direktor ihr das Messer weggenommech, weil sie in der langweiligen Rechenstunde am Schultisch geschnitzelt habe. Und ehe noch Tante Sophie ihrer sehr begründeten Entrüstung Luft machen konnte, war die Kleine schon zur Thür hinaus, um „beim Papa ein Federmesser zu borgen“.

Wenige Sekunden nachher stand sie mit sehr verdutztem Gesicht droben vor dem Zimmer. Die Thür war verschlossen; es steckte kein Schlüssel, und durch das Schlüsselloch konnte sie sehen, daß der Stuhl vor dem Schreibtisch leer stand ... Ja, was sollte denn das heißen? Es war ja gar nicht wahr, das, was der Papa vom vielen Schreiben gesagt hatte – er schrieb nicht, er war gar nicht zu Hause!

Die Kleine sah sich um in dem weiten, mächtig großen Flursaal. Er war ihr ja so vertraut, und doch in diesem Augenblick so wunderlich neu und anders … Wie oft tollte und jagte sie mit Reinhold hier herum; aber sie konnte sich nicht erinnern, je allein hier oben gewesen zu sein.

Nun war es zwar etwas dämmerig, aber so feierlich, so schön still in dem Flursaal! Durch seine hohen Fenster sah man über den Hof und das sehr tiefgelegene, niedere Packhaus hinweg, weit in die grüne, blühende Welt hinaus. Auf den Kredenztischen stand allerlei funkelndes Trinkgeräth, und die Stühle mit den gelben Sammetbezügen hatten auf dem dunkelholzigen Rücklehnengestell geschnitztes fremdartiges Gevögel zwischen Tulpen und langstieligem Blattwerk … Tintenklex und Federmesser waren total vergessen; der übermüthige Wildfang mit dem rückhaltslosen, derb aufrichtigen Wesen wandelte verschleierten Blickes von Stuhl zu Stuhl, strich mit der Hand über den verblichenen Sammet und träumte sich in eine wunderliche Gedankenwelt, die kein Laut von außen störte.

Der letzte Stuhl stand in der Ecke ziemlich nahe der Thür, die in den rothen Salon führte, und von da aus sah man schräg in den dunklen Gang hinter Frau Dorotheens Sterbezimmer hinein. Auch er, an dessen entgegengesetztem Ende in diesem Augenblick ein letztes rosiges Abendwölkchen durch das hochgelegene kleine Fenster hereinstrahlte, war ihr vertraut, er hatte nie Schrecken für sie gehabt. Reinhold blieb freilich konsequent am Eingang stehen und traute sich nie weiter; aber sie durchmaß ihn immer wieder bis zu dem Treppchen, welches seitwärts hinab bis zur Bodenthür des Packhauses führte. Auf der einen Seite unterbrachen schöngetäfelte Zimmerthüren die einförmige Wandfläche, und an der Rückwand standen zweithürige Kleiderschränke mit Metallbeschlägen.

Tante Sophie hatte diese Schränke auch einmal aufgeschlossen und gelüftet, und Margarete hatte hineinsehen dürfen. Da hing eine kostbare Brokatschleppe neben der anderen, farbenbunt, und zum Theil auch schwer, mit Gold und Silber durchwirkt – lauter Staatskleider Lamprecht’scher Hausfrauen. Auch Frau Judith’s Brautkleid, ihre Brautschuhe – wahre Ungethüme von Stöckelschuhen – waren pietätvoll hier aufbewahrt; sie war ja die einzige Tochter und Erbin eines vornehmen, sehr begüterten Hauses gewesen – ein bedeuteter Theil des Lamprecht’schen Reichthumes stammte von ihrer Mitgift her. Das wußte die kleine Margarete nicht, sie würde wohl auch kein Verständniß dafür gehabt haben – sie suchte nur manchmal mit ihren kleinen Händen an den Schrankthüren zu rütteln, um den geheimnißvollen Laut, das Aneinanderreiben der steifen Seide herauszuhören.

Nun war sie auch einmal mutterseelenallein hier. Der kleine Bruder war nicht da, um sie am Rock zurückzuzerren, und sein ängstlicher Zuruf störte sie nicht. Sie huschte tiefer in den Gang hinein und wollte eben vor einem der Schränke stehen bleiben, als sie ganz deutlich ein Geräusch hörte, wie wenn Jemand in ihrer Nähe wiederholt auf ein Thürschloß griff. Die Kleine horchte auf, zog in vergnüglicher Ueberraschung den Kopf zwischen die Schultern, kicherte in sich hinein und schlüpfte in das dunkelnde Versteck neben dem Schrank, von wo sie die schräg gegenüberliegende Thür sehen konnte … Na, aber die Augen wollte sie sehen, die Tante Sophie machen würde, wenn sie hörte, daß es die Sonne doch nicht gewesen war! Und „die Gretel“ behielt Recht, Emma war es gewesen, und wenn sie zehnmal that, als fürchte sie sich – sie steckte ja noch drin im Zimmer! Der konnte ein tüchtiger Schrecken nicht schaden, ganz und gar nicht!

In diesem Augenblick ging die Thür lautlos auf, und hinter ihr trat ein kleiner Fuß von der erhöhten Schwelle auf die Gangdielen herab; dann huschte es ganz weiß aus dem schmalen Spalt, zu welchem sich die Thür geöffnet hatte … Von dem weißen Latzschürzchen und dem kokettgerafften Falbelkleid des Stubenmädchens war nun freilich nichts zu sehen; ein dichter Schleier fiel vermummend vom Scheitel über die ganze Gestalt her, und seine Spitzenkante schleifte auf den Dielen nach. Aber es war doch Emma, die sich einen Spaß machte – sie hatte solch ein Füßchen und trug stets nette Schuhe mit hohen Absätzen und Bandrosetten. Vorwärts, drauf! Das gab einen famosen Spaß!

Gewandt wie ein Kätzchen schlüpfte das Kind aus seinem Versteck, flog der Dahinhuschenden nach, warf sich mit der ganzen Schwere des kleinen Körpers von rückwärts über die Gestalt her und umklammerte sie mit beiden Armen; dabei gerieth ihre kleine Rechte durch eine Schleieröffnung in das weiche, über die Hüfte herabhängende Gewoge einer gelösten Haarflechte – sie griff fest zu und zog zur Strafe für „den dummen Witz“ so derb an den Haar-Enden, daß sich der vermummte Kopf tief nach dem Nacken zurückbog ...

Ein Schreckensschrei, dem ein klagender Wehlaut folgte, scholl durch den Gang – was dann geschah, kam so blitzschnell, so unerwartet, daß die Kleine sich nie, auch später nicht, eine klare Vorstellung davon machen konnte. Sie fühlte sich gepackt und geschüttelt, daß ihr Hören und Sehen verging, ihr kleiner Körper flog wie ein Ball um eine ganze Strecke, fast bis zum Eingang des Korridors, zurück und stürzte zu Boden.

Sie blieb, wie betäubt, mit geschlossenen Augen liegen, und als sie endlich die Lider hob, da stand ihr Vater bei ihr und sah auf sie nieder. Aber sie erkannte ihn kaum – sie entsetzte sich vor ihm und schloß unwillkürlich die Augen wieder, instinktmäßig fühlend, daß etwas Schreckliches kommen müsse; denn er sah aus, als wisse er nicht, solle er sie erwürgen oder zertreten.

„Steh’ auf! Was thust Du hier?“ fuhr er sie mit kaum erkennbarer Stimme an, packte sie mit rauhem Griff und stellte sie auf die Füße.

Sie schwieg; der Schrecken, aber auch das Unerhörte der grausamen Behandlung verschlossen ihr die Lippen.

„Hast Du mich nicht verstanden, Grete?“ fragte er in etwas beherrschterem Ton. „Ich will wissen, was Du hier treibst!“

„Ich wollte zuerst zu Dir, Papa; aber die Thür war verschlossen, und Du warst nicht zu Hause –“

„Nicht zu Hause? Unsinn!“ schalt er und trieb sie vor sich her. „Die Thür war nicht verschlossen, sag’ ich Dir – Du wirst ungeschickt beim Oeffnen gewesen sein. Ich war hier im rothen Salon –“ er zeigte nach der Thür, auf welche er die Kleine zuschob – „als ich Dein Geschrei hörte.“

Margarete stemmte die Füße fest auf den Boden, sodaß Herr Lamprecht auch stehen bleiben mußte, und wandte ihm das Gesicht zu. „Ich habe doch nicht geschrieen, Papa?“ sagte sie mit weitgeöffneten, erstaunten Augen.

„Du nicht? Wer denn sonst? Du wirst mir doch nicht weismachen wollen, daß noch Jemand, außer Dir, hier oben gewesen ist?“

Er war ganz roth im Gesicht, wie immer, wenn er zornig und ungeduldig wurde, und seine Augen blitzten sie drohend an.

Sie sollte gelogen haben! In dem Kind, welches die Aufrichtigkeit

selbst war, empörte sich jeder Blutstropfen. „Ich mache Dir nichts weis, Papa! Ich sage die Wahrheit!“ betheuerte sie,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_039.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2019)