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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Sacke hat. O - daß er diesem falschen Freunde Alles geopfert - der ihn um den großen Schatz betrogen, mit dem er so viele Lose hätte kaufen können! Jetzt war alles Glück für ihn dahin - einmal verschmäht, war es ihm untreu geworden. Alles durch Canelo’s Schuld!

So sah er die Sache jetzt an. Dabei wuchsen die Schulden und das Elend. Um es zu ertragen, stärkte er sich am Val de Peñas und fluchte kräftig auf das Schicksal, das einen so verdienten Sieger wie José Mateos in solche Noth gerathen lasse.

Und neben diesem Vater war Lu aufgewachsen, frisch, anmuthig und, was noch viel mehr sagen wollte, arbeitsam und tüchtig.

Sie hatte in der Taufe den Namen Guadalupe erhalten, nach der Schutzpatronin des nahen Klosters: Nuestra Señora de la Guadalupe.

Selbst für geduldigere Leute, als Spanier gewöhnlich sind, wäre der Name für den täglichen Gebrauch etwas umständlich gewesen. Namen sind aber nicht da, um nur Sonntags oder Festtags benutzt zu werden. So machte man Lupe daraus und als auch das noch zu lang schien: Lu, was einen entschieden chinesischen, etwas antichristlichen Beigeschmack hat. Den Segovianern aber, die wenig oder nichts von China wissen, galt der Name für gut spanisch und – dank der allerchristlichsten Abstammung – auch für besonders heilig.

Lu hatte zeitig eingesehen, daß es nicht hinreiche, die paar Cuartos[1] zusammenzuhalten, welche der Vater ihr zur Bestreitung des kleinen Haushaltes gab, sondern daß sie auch verdienen müsse. Sie hatte die leichten Arbeiten der Strohflechterei, die in Kastilien von Frauen viel gehandhabt werden, als Kind schon bewältigt und eine ganz außerordentliche Geschicklichkeit allmählich darin erlangt. Wenn sie die kleine Wohnung, die ihr und ihrem Vater in dem öden Palast angewiesen, in Ordnung gebracht, Garvanzos[2] und ein wenig Speck auf die Kohlen gestellt hatte, nahm sie schnell die Arbeit vor. Die Glocke vom Parral, dem alten Kloster, das über dem Wege lag, gab das Maß und rasch genug verflogen die Stunden. Freunde hatte sie nur wenige, denn jeder floh das Haus, um dem rohen Vater nicht zu begegnen. Auch Concha’s Eltern hatten um dieser Ursache willen den Umgang ihrer Tochter mit Lu zu den verbotenen Dingen gemacht. Concha war aber ein echtes Evaskind. Das Verbot schien ihren ursprünglichen Geschmack für die Schulfreundin – die Kinder hatten den Weg zu den Augustinerinnen über dem Wasser immer gemeinschaftlich gemacht und beide gleich wenig dort gelernt – zu einer wahren Leidenschaft erhöht zu haben. Concha liebte und bewunderte ihre Freundin, in der sie eine Märtyrerin des alten Mateos erblickte, und that ihr Bestes, das Martyrium täglich unerträglicher zu machen, indem sie den Vater gegen das arme Mädchen herabsetzte.

Der Alte, so roh und wüst er war, vergalt der Tochter kindliche Treue durch eine gewisse Rücksicht; er fluchte etwas weniger in ihrer Gegenwart, ausnahmsweise gab er ihr sogar ein gutes Wort. Auch war sie, nächst den Lotterielosen, ihm entschieden das Liebste in der Welt, obgleich er um dieser Liebe willen seinen Charakter natürlich nicht änderte. Jetzt machte sie ihm manche sorgenvolle Stunde. Wie, wenn der Gewinn gar nicht einträfe – er hatte den Gedanken daran fast aufgegeben – wenn der alte Canelo aber trotzdem den Sohn schickte, um ihm die Tochter wegzuholen, seine aufmerksame, fleißige Wirthschafterin? Canelo hatte ein Recht dazu – es war keine Summe in der Klausel festgesetzt worden. In solchen Augenblicken – und sie waren jetzt nicht selten, wo die zehn Jahre um – packte es ihn sogar manchmal wie Verzweiflung. Dann faßte er nach Lu’s Hand und sah sie geängstigt an. Sie verstand ihn nicht. Der Vater hatte ihr wohl von seiner „Großmuth“ gegen den falschen Freund gesprochen, aber nie von dem Uebereinkommen, das ihre Zukunft betraf. Sie lachte ihn sogar aus oder zog ihm die Schleife seiner abgetragenen Kravatte auf, um sie von Neuem zu knüpfen. „Ich will Staat mit Dir machen, alter Papa!“ rief sie und versuchte die tiefen Furchen seiner Stirn mit ihren weichen Fingern zu glätten, oder sie tanzte gar vergnügt mit ihm in der Stube herum.

Denn Lu hatte sich auf ihrem Kehrichthaufen noch nie so wohl befunden, als gerade jetzt.

Das hatte seinen Grund, und zwar einen sehr naheliegenden. Der Grund aber wandelte in Gestalt eines jungen Baumeisters seit einigen Tagen in dem alten Palaste herum, maß und berechnete. Der Besitzer hatte ihn mit einem Briefe an José Mateos geschickt, damit dieser dem Felipe Currito in allen Stücken zu Diensten sei, wenn er in seinem Auftrage den Kostenüberschlag für die in einem Flügel des Gebäudes nöthigen Reparaturen mache.

Lu war gerade mit ihrer Arbeit fortgegangen, als er sich dem Vater vorgestellt hatte, und als sie spät am Abend zurück kam, fand dieser es nicht nöthig, sie von dem Ereigniß in Kenntniß zu setzen. Die Sache war ihm unangenehm. Ein so naher Beobachter konnte Manches an den Tag bringen, was ihm bei seinem Gebieter schade. Je weniger man sich aber mit einer unangenehmen Sache beschäftige, je besser. Lu saß deßhalb sehr unbefangen am nächsten Morgen an ihrer Arbeit. Die Frühjahrssonne fing schon an unbequem zu werden, und sie hatte sich einen schattigen Platz ausgewählt, dicht an der Fontaine des von den Gebäuden eingeschlossenen Hofes. Ein alter, jetzt in Blüthe stehender Kastanienbaum, der für den engen Raum sich fast zu weit ausgebreitet, ließ kaum einen Sonnenstrahl durch sein dichtes Laub. Lu hatte es recht nöthig, fleißig zu sein, es fehlte an Allem jetzt im Hause. Der Vater hatte eben, als sie ihn um ein paar Realen gebeten, mit einem Fluche die leere Schublade aufgezogen, in der er sein kleines Einkommen verwahrte, und sie gefragt, ob sich da etwas herausnehmen lasse?

„Ich muß die Arbeitszeit verlängern, oder die bittere Noth zieht bei uns ein!“ dachte Lu, und die Hände bewegten sich noch schneller als gewöhnlich, während sich tiefer Ernst auf die jungen Züge legte.

Felipe Currito, der fremde Baumeister, war da von ihr unbemerkt durch die Rotunde, welche das Portal mit diesem Hofe verbindet, eingetreten und hatte sie eine Weile mit festem, untersuchendem Blicke angesehen, wie Jemand, der einen Gegenstand betrachtet, an dem er großes Interesse nimmt.

Es liegt etwas Magnetisches in solchem Blick. Lu mußte unwillkürlich aufsehen und begegnete dabei zwei dunklen Augen, vor denen sie die ihren schnell wieder auf die Arbeit senkte. Sie hatte dem Besitzer dieser Augen nicht einmal Gelegenheit zu einem Gruße gegeben.

Was wollte er? Er war in das Haus gekommen, ohne die Klingel zu ziehen – sah er sie noch immer an?

„Guadalupe,“ rief der Vater da, der mittlerweile auch in den Hof getreten war, „unsere Excellenz hat dem Señor Currito“ – so stellte er den Fremden vor - „den Auftrag gegeben, die Molche und Eidechsen aus den alten Mauern auf jener Seite zu vertreiben und neue Wände aufzuführen. Aber der Herr wird’s nicht lange bei uns aushalten; es ist kein Vergnügen dabei; die Excellenz wird auch nicht leicht jemand finden,“ setzte er in grämlichem Tone hinzu, „der so geduldig wie wir in diesem Gefängniß Wache hält.“

„Man kann überall glücklich sein,“ sagte das junge Mädchen, welches die Worte gern mildern wollte.

„Und sind Sie hier glücklich?“ richtete der Fremde zum ersten Male das Wort an sie.

Die Stimme hätte ihr schon gefallen; sie hatte einen tiefen, wohlthuenden Klang. Wenn nur die forschenden Augen nicht gewesen wären, vor denen sie sich fast zu fürchten anfing. Sie hätte die Frage über ihnen beinah vergessen, aber er wiederholte sie: „Sind Sie hier glücklich?“

„Warum sollte ich es nicht sein?“ erwiderte sie ausweichend. „Andere kommen ja weit her, um die alte schöne Stadt nur einmal zu sehen, in der wir immer wohnen können – ist es nicht so?“

„Ja, eine Stadt, die über zweitausend Jahre alt ist, scheint es auch werth, daß man sie ansieht ...“

„Zweitausend Jahre!“ rief sie verwundert, ohne die Zahl eigentlich zu begreifen.

„Aber wer hier geboren ist,“ fuhr er fort, „den treibt es dafür hinaus. Wer eine Weile auf diesem hohen Felsen [3] genistet hat, der sehnt sich in die Ebene zu kommen.“

„Ich kenne das flache Land nicht,“ erwiderte Lu, welche

anfing, sie wußte selbst kaum warum, recht zutraulich zu werden,

  1. Kupfermünzen.
  2. Eine Erbsenart, tägliche Kost in Kastilien.
  3. Segovia ist auf einem ungeheuren Felsen, der fast die Form eines riesenhaften Schiffs hat, erbaut; zu seinen Füßen fließt die Eresma.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_054.jpg&oldid=- (Version vom 10.5.2020)