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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

neuerdings nachweisbar gewachsen ist – von kaum 7 Liter im Jahre für den Kopf der Bevölkerung auf mehr als 9 Liter binnen einem halben Jahrhundert. Das Trinken bei nüchternem Magen soll dort ebenso wie in Frankreich sehr verbreitet sein, namentlich unter dem Militär. Nicht minder trinkt man in Belgien wie in Frankreich vielfach zum Bier oder Cider Schnaps, pour les faire passer, damit sie besser bekommen. Dasselbe ist ja aber auch aus Berlin, wo zur „kühlen Blonde“ fast unentbehrlich das Schnäpschen gehört, und aus vielen andern Gegenden Deutschlands bekannt. Dem Franzosen schmeckt nicht einmal der Nachmittagskaffee ohne das petit verre, nämlich Likör.

Unter den Holländern rechnet A. Beaujou in einem Aufsatz der „Revue de Belgique“ (1883) zu den stärksten Branntweinverbrauchern die Erdarbeiter, welche das wasserreiche Land an den Deichen und in den Niederungen zu Tausenden beschäftigt: „Obschon abgehärtet an einer Beschäftigung und Lebensweise, die Schwächlinge aufreiben würden, sterben diese kraftstrotzenden Menschen früh, weil sie sich mit Alkohol vergiften. Ein Liter Genever täglich ist, wie berichtet wird, für viele unter ihnen ein Minimum, das sie häufig überschreiten. Wer eine Gruppe dieser Arbeiter dingt, muß den Lohn in so und so viel Litern Schnaps ausmachen; er pflegt dann noch einige Cents hinzuzufügen, um denjenigen Lebensbedürfnissen zu genügen, die sich nicht in der Form des Genevers abfinden lassen. Offenbar gelten sie aber als Nebensache, die Hauptsache ist das starkwirkende Getränk. Geld als einzigen Lohn lehnen sie ab; ihr erster und letzter Bedarf ist Genever, andere Bedürfnisse kennen sie kaum.“

Umgekehrt die Russen! Der russische Bauer ist nach neuern Angaben nicht, was man einen Gewohnheitstrinker nennt; er trinkt nicht allzu oft, aber wenn er trinkt, dann tüchtig. A. Koschelew schrieb 1881: „In Deutschland, Schweden und Dänemark wird viel mehr getrunken als bei uns; man sieht dort aber seltener einen Betrunkenen. Bei uns liegen auf Kirchweihen und Hochzeiten, in der Butterwoche, zu Ostern, auf den Märkten überall Betrunkene herum. Es wird bei uns nicht soviel getrunken, aber es wird auf eine verrückte Weise getrunken.“

Freiherr von Haxthausen unterschied zu seiner Zeit zwischen Groß- und Kleinrussen. „Der Großrusse trinkt nicht täglich, aber es kommen Zeiten und Verführungen, und hat er dann einmal einen Tropfen geschmeckt, so ergreift ihn die Trunksucht, und er trinkt dann ohne Aufhören Tage, ja Wochen lang. Bei weitem mäßiger sind die Kleinrussen. Die Letzteren trinken mit Ruhe und Ueberlegung, während die Großrussen den Branntwein sinn- und gedankenlos quartweise auf einmal in den Magen gießen. Jene trinken, um Erholung oder fröhliche Stimmung zu finden und deshalb immer in Gesellschaft, – diese trinken auch allein.“

In England fällt jedem Fremden die starke Zahl betrunkener Weiber auf, die in den größeren Städten anscheinend noch ständig wächst. Der eigentliche Engländer trinkt wenigstens mehr Bier, wenn auch schweres, als Branntwein, den der Schotte bevorzugt, während dem Iren nachgesagt wird, er trinke mehr aus Geselligkeitstrieb als aus Trunksucht.

Die Engländerin Miß Isabella Bird, welche in Japan auf von Europäern vorher unbetretenen Pfaden gewandelt ist und ihre Eindrücke so vortrefflich wiederzugeben weiß, hat auch dort, in einem der Gebiete ostasiatischer alter Kultur, maßlosen Alkoholgenuß wahrgenommen. Japan, sagt sie, sei zwar nicht ein Viertel so unmäßig wie England, aber die Trunksucht gehöre gleichwohl zu seinen größten Uebeln, und einige skandalöse Auftritte, die sie sah, namentlich in den Gärten der einstigen Hauptstadt Kiyoto, werde sie nie vergessen. Ohne das Reisbier, Saki genannt, könne man sich Japan sowenig vorstellen wie England ohne Porter und Ale. Es gehöre zu den herkömmlichen Anstandsgebräuchen des Landes, bei besonderen Gelegenheiten eine vorgeschriebene Menge Saki zu trinken. Der fünfzehnte Theil der Reisernte pflegt in dieses Getränk verwandelt zu werden. Dem Geschmacke nach muß das Reisbier, sagt Miß Bird, „fünf bestimmte Eigenschaften besitzen: es muß süß, scharf, sauer, bitter und zusammenziehend auf einmal schmecken, und dabei den Geruch von Fuselöl haben. Es enthält elf bis siebzehn Procent Alkohol. Ich halte es für schal, ekelhaft und ungesund.“ Dieses Urtheil klingt ja hart, aber Isabella Bird nennt auch Wein, Bier und Branntwein einfach „abscheuliche Gesöffe, die einen bösartigen und langwierigen Rausch und zuletzt den kläglichen Säuferwahnsinn hinterlassen, welcher als Wirkung des Saki kaum bekannt ist.“ Dieser wird häufig warm getrunken und bewirkt dann einen lärmenden, aber gemüthlichen Rausch. „Ich habe eine gute Zahl Betrunkener gesehen aber keinen, der auch nur im geringsten Grade streitlustig gewesen wäre. Die Wirkung geht bald vorüber; doch bleibt zur Verwarnung eine Uebelkeit zurück, welche zwei bis drei Tage anhält.“

Bei den Ainos, den Ureinwohnern der nördlichsten Insel Yezo, geht die Neigung zum Trunke noch weiter. Miß Bird, die sie für das europäische Publikum sozusagen erst entdeckt hat und sehr herausstreicht, nennt sie wahrhaft, keusch, gastfrei, ehrerbietig und liebevoll gegen das Alter, aber eine bestialische Trunkenheit ist die höchste Wonne, nach welcher diese armen Wilden trachten. Sie wird durch die merkwürdige Vorstellung geheiligt, daß sie den Göttern zutrinken. Auf eine Strafpredigt über den Mißbrauch des Reisbieres antworteten sie ihrer englischen Gönnerin: „Wir müssen den Göttern zutrinken, wenn wir nicht sterben wollen.“ So widerspricht die Trunksucht nicht der Religion, sondern ist im Gegentheil eher ein Stück derselben und schon aus diesem Grunde außerordentlich schwer auszurotten. Männer und Weiber sind diesem Laster in gleichem Maße ergeben. Doch kommen auch Enthaltsame vor. Irgendwo sah Miß Bird einige Büschel Menschenhaare an einem Götter-Schreine hangen und erfuhr auf ihr Befragen, daß Leute, die an den Folgen der Unmäßigkeit zu leiden haben, nicht selten das Gelübde völliger Enthaltung ablegen und es einem ihrer Götter darbringen, der die Uebertreter streng bestraft. Als Zeichen ihres Entschlusses schneiden solche Personen sich den Haarbüschel vom Scheitel ab und hängen ihn an den heiligen Schrein des Gottes.

Der feierlich aufgehängte Haarbüschel bedeutet also bei den Ureinwohnern Nord-Japans dasselbe, was heute bei vielen Engländern das blaue Band im Knopfloch: Enthaltsamkeit von Alkohol. Jene stellen ihren Vorsatz unter den Schutz der strafenden Gottheit, diese unter den der Oeffentlichkeit, beide weil sie der eigenen Kraft mit Recht mißtrauen.

Die deutschen Trinkgewohnheiten brauchen wir schließlich kaum zu schildern, nur zu gut sind sie Allen bekannt, und ihre modernste Blüthe, der von den Studenten auf alle Welt übertragene Frühschoppen, hat ja sogar schon die Ehre einer Erörterung im Reichstag und die Weihe einer Einladung zum Fürsten Bismarck erfahren. „Zechen“ und „Kneipen“ sind Worte, die noch immer angenehm in fast jedes deutschen Mannes Ohren tönen. In einem Wiener Blatte wurde vor kurzem das deutsche und englische Kneipen in einem Aufsatz verglichen, der mit folgender, an Wilhelm Hauff im Bremer Rathskeller erinnernden holden Schwärmerei begann:

„Urgermanische Kraftsitte des Kneipens! Immer wirst Du blühen, solange Studenten und Altherren unverweichlicht genug sind, nach des Tages anstrengender Denkarbeit in einem rauchigen Winkel, auf hartem Sitz, bei Genüssen ohne Luxus und Worten ohne Hehl ein derbes Elysium zu finden. Gefühle und Lieder überschäumender männlicher Begeisterung hast Du entzündet, wie sie kein Salon, kein Spaziergang und keine Ruderpartie je wecken konnten. Mag Dich auch der Ausländer, der Dich nicht kennt und bei der geschwätzigen Siesta oder gezierten Diner-Einladung Ersatz sucht, unvernünftig und flegelhaft nennen, gebe der Gott, der Eisen wachsen läßt, daß unsere Jugend nie aller Unvernunft und unsere Männer nie aller Flegelhaftigkeit bar werden!“

Der letztere Theil dieses frommen Wunsches dürfte schwerlich allen „Inländern“ ohne Ausnahme aus der Seele gesprochen sein. Das Gute, Schöne, Reizende des Kneipens ist wohl zu haben ohne die althergebrachte Maßlosigkeit, nachdem das Leben an Freuden soviel reicher geworden ist, an Natur- und Kunstgenüssen aller Art, seit die Vorfahren aus dem Zechen eine spezifische Germanentugend machten. Es ganz auszurotten wird keines Vernünftigen Vorhaben sein. Seine Uebertragung auf amerikanischen Boden mit dem dazu gehörenden leichten Lagerbier erscheint dortigen Nervenärzten als eine Wohlthat, solange es in Schranken bleibt, da es der rasch trunken machenden und unaufhaltsam aufreibenden Gewohnheit stehenden Schnapsens an der Bar eine gleichartige erträgliche Abschwächung gegenüberstellt, wie die Kuhpockenimpfung im Verhältniß zum Blatterngifte ist. So befördert ja auch die jüngere der beiden niederländischen Mäßigkeitsgesellschaften den Genuß schwach-alkoholischen Bieres, wie das bayerische in Bayern etwa ist, und schwedische Mäßigkeitsfreunde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_062.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2024)