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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

geistige und körperliche Anstrengung verbot. Er selbst fühlte die Entbehrung aller schönen Jugendfreuden wohl kaum, denn sein ganzes Dichten und Trachten ging im Geschäft auf. Wenn aber der Kommerzienrath den langen, bleichen, dünnen Zahlenmenschen mit der kühlen Gemessenheit eines Greises am Schreibtisch stehen sah, unbekümmert, ob draußen Blüthenschnee von den Bäumen flog, oder wirkliche winterliche Flocken vor den Scherben wirbelten, da ging es wie Zorn und Grimm durch seine Züge, und ein bitter verächtlicher Blick streifte das Häuflein Gebrechlichkeit, welches dereinst das Haus Lamprecht repräsentiren sollte. Aber er sprach nie darüber; er ballte nur im Stillen krampfhaft die Faust, wenn die Frau Amtsräthin sich freute, daß die vornehme Ruhe der seligen Fanny in so frappanter Weise auf den Sohn übergegangen sei. Und eigentlich kränklich war der Stammhalter der Lamprechts nach ihrem Dafürhalten absolut nicht – Gott behüte! Er war nur zarter, empfindlicher Konstitution – eine Frau wie Fanny konnte selbstverständlich nicht die Mutter von robusten Bauernkindern gewesen sein. Margarete war ja auch bleich und schmächtig, aber kerngesund. Man mußte nur ihre Reisebriefe lesen – das Mädchen ertrug ja Strapazen und Anstrengungen wie ein Mann! ... Diese Bravourstücke waren übrigens durchaus nicht nach dem Geschmack der alten Dame; der Entwickelungsgang der Enkelin mißfiel ihr gründlich. Ein langjähriger Aufenthalt in einem vom Adel frequentirten, etwas orthodox angehauchten Pensionat, dann Vorstellung bei Hofe, und nach einigen Jahren der Auszeichnung und des Triumphes als Abschluß eine gute Partie – so mußte eigentlich die Jugendzeit der einzigen Tochter eines reichen Hauses verlaufen. Aber schon der Plan bezüglich des Institutes hatte ja an Margaretens Trotzkopf scheitern müssen, und das Mädchen war zum stillen Aerger der Großmama bis über das vierzehnte Lebensjahr in seiner „entsetzlichen Urwüchsigkeit“ verblieben. Dann war allerdings ein plötzlicher Umschwung eingetreten.

(Fortsetzung folgt.)

Ferienstudien am Seestrande.

Von Carl Vogt.
Weiber und Männlein.

Wir sind durch den Anblick unserer eigenen Gattung sowie der uns näher stehenden Säugethiere und Vögel, besonders unserer Hausthiere, so sehr daran gewöhnt, das männliche Geschlecht als das stärkere, größere, ja selbst in bestimmter Richtung weiter ausgebildete anzusehen, daß, wir uns nur schwer mit Thatsachen befreunden können, welche uns ein umgekehrtes Verhältniß vor Augen führen.

Das Weibchen der grünen Bonellie in halber Größe.

Der neugeborene Knabe wiegt etwas schwerer, ist etwas länger, als das neugeborene Mädchen (es kann hier natürlich nur von Mittelzahlen, aus Tausenden von Wägungen und Messungen entnommen, die Rede sein), und dieses Verhältniß erhält sich das ganze Leben hindurch. Unsere Hausthiere weichen von dieser für den Menschen geltenden Regel nicht ab, ich brauche nur an Stier und Kuh, Hengst und Stute, Bock und Ziege, Hund und Hündin, Kater und Katze, Hahn und Henne zu erinnern. Werfen wir den Blick auf die Thiere des Waldes und Feldes, findet auch hier das Gesetz, das wir uns aus der nächsten Umgebung abgeleitet haben, in den meisten Fällen seine Anwendung, bei Hirsch, Reh, Hase und Wildschwein, wie bei Fasanen, Auerwild und Enten. Doch fällt uns hier schon eine Ausnahme auf: die männliche Raubvögel sind stets kleiner, schwächer, wenn auch meist intensiver gefärbt, als die Weibchen. Die meisten Lehrbücher der Naturgeschichte fassen in der That dies Verhältniß als eine Ausnahme auf, und der Leser denkt gutmüthig: Ja, ja! Ausnahmen bestätigen die Regel.

Wir können noch weiter gehen. Es ist unleugbar, daß in allen angeführten Fällen das weibliche Geschlecht eine größere Aehnlichkeit mit den Jugendformen hat, als das männliche. Am leichtesten läßt sich dies in der Befiederung, der Farbe und Zeichnung der meisten Vögel nachweisen, aber auch genauere Untersuchung des inneren Baues führt zu demselben Resultate. Die weibliche Schädelbildung ähnelt der kindlichen; die meisten Organe zeigen bei dem weiblichen Geschlechte, wenn es dem männlichen gegenüber gestellt wird, ein mehr oder minder auffälliges Stehenbleiben auf der Stufe des Jugendalters. Ich will gern zugeben, daß die Weiterentwickelung des männlichen Geschlechtes eine einseitige ist, daß sie namentlich in den Charakteren hervortritt, welche mit der größeren Ausbildung der Muskelkraft, der Bewaffnung zu Schutz und Trutz in Verbindung stehen; aber trotz der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter, deren Anhänger ich bis zu einem gewissen Grade bin, ist diese weitere Entwickelung des männlichen Geschlechtes thatsächlich vorhanden.

Wie aber, wenn das Verhältniß sich umkehrte, wenn die Ausnahme, welche die Raubvögel bieten, nicht nur Regel würde, sondern sogar sich ins Ungeheuerliche aufbauschte in solcher Weise, daß das Weib eine Riesin würde gegenüber dem zwerghaften Manne, und daß letzterer nachweisbar auf einer niedrigen Stufe der Entwickelung stehen bliebe, während das Weib von der Larvenform, die dem Männlein zeitlebens erhalten bleibt, weiter fortschritte zu höheren Stufen der Ausbildung?

Das Männchen der grünen Bonellie, etwa fünfzigfach vergrößert.

Solche Vorkommnisse sind nicht selten.

„Was für Streiche machen Sie uns!“ sagte mir lachend Herr Faye, der berühmte Astronom in Paris, als ich ihn in der Sitzung der Akademie der Wissenschaften begrüßte. „Sie unterminiren die Suprematie des männlichen Geschlechts, auf der alle unsere socialen Einrichtungen beruhen!“

„Ich wüßte nicht! Woraus schließen Sie das?“ fragte ich zurück.

„Freilich,“ antwortete er. „Ich komme eben von Cette, wohin mich mein Amt als Generalinspektor der höheren Schulen rief. Man hat mir dort in der zoologischen Station Zeichen und Wunder von einem Wurme erzählt, den Sie entdeckt hätten und dessen mehrere Fuß langes Weibchen seine mikroskopisch kleinen Männchen in einer Tasche mit sich herumtrüge. Was wird da aus unserer Ueberlegenheit? Wie nennen Sie die Bestie? Warum haben Sie der Akademie noch keine Mittheilung von einer so unerhörten Beobachtung gemacht?“

„Ganz einfach, lieber Freund, weil ich nichts entdeckt habe; weil die Sache längst bekannt ist, weil Ihr Kollege Lacaze Duthiers schon vor Jahren eine mustergültige Anatomie des Weibchens veröffentlicht hat, und weil ich weiter nichts gethan habe, als den Wurm aus den Händen des Fischers, der ihn freilich nicht kannte und zum ersten Male gefunden hatte, in Empfang zu nehmen und den gerade anwesenden Studenten zu demonstriren.“

„Sie sprechen nur vom Weibchen. Hat Lacaze auch das Männchen untersucht?“

„Nein! Gesehen hat er es wohl, aber für ein schmarotzendes Eingeweidewürmchen gehalten. Seine wahre Natur hat er nicht erkannt.“

„Merkwürdig!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_079.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2024)