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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

„Aber doch leicht erklärlich,“ fiel ich ein. „Als Lacaze seine Monographie ausarbeitete, konnte ihm der Gedanke gar nicht aufkommen, daß er ein verkümmertes, in seinem äußeren und inneren Bau von dem Weibchen gänzlich verschiedenes Männchen vor sich habe. Um so weniger, als er diese Würmchen in dem Schlunde der Weibchen fand. Man kannte damals und noch lange nachher nur einige wenige Beispiele von Zwergmännchen bei an Fischen schmarotzenden Krustenthierchen und war durchaus in der Anschauung befangen, daß sie nur bei diesen vorkommen könnten. Dies ging soweit, daß man glaubte, die Räderthierchen, bei welchen ebenfalls solche verkümmerte Männchen vorkommen, mit aus diesem Grunde für Krustenthierchen halten zu müssen. Ich habe manchen scharfen Widerspruch von gewiegten Forschern erfahren müssen, als ich dieser Meinung entgegentrat. Jetzt rechnet Jedermann mit mir die Räderthierchen zu den Würmern.“

„Was Sie nicht sagen!“

„Wir stehen, trotz allen Strebens nach Selbständigkeit, doch immer mitten in den Anschauungen unserer Zeit und folgen oft unbewußt den Strömungen, die sie erzeugt.“

„Sehr wahr! Aber, um auf unseren Wurm zurückzukommen, wie nennen Sie ihn?“

„Die grüne Bonellie (Bonellia viridis). Mit diesem Namen hat ihn ein italienischer Naturforscher, Rolando, schon im Jahre 1822 zu Ehren eines anderen Forschers, Bonelli, getauft.“

„Kommen Sie,“ sagte Faye, „Sie müssen mir das Thier näher erklären und zeichnen, denn ich kann mir keine rechte Vorstellung davon machen!“

Ich entwarf aus dem Gedächtniß einige freilich sehr unvollkommene Skizzen mit der Feder auf ein Blatt Papier und erläuterte sie, so gut ich konnte.

Die weibliche Bonellie ist ein stattlicher Wurm von sehr sonderbarer Gestalt und tief saftgrüner Farbe. An dem sackartigen dicken Körper, der seine Form durch unaufhörliche Zusammenziehungen und Ausdehnungen beständig ändert, aber in der Ruhe etwa einer unreifen Citrone ähnlich sieht, sitzt ein Rüssel, der sich an seinem Ende in zwei blattartige Lappen gabelt. Mit dem dicken Körper gräbt sich der Wurm in festeren Schlamm, in Sand, ja selbst in die Höhlungen weicher Kalksteine oder in die Lücken zwischen den so häufigen Kalk-Algen ein und mit dem Rüssel tastet er auf dem Meeresgrunde umher.

Der Rüssel windet sich dabei wie eine Schlange hin und her und zieht oft den Körper, der durch seine Kontraktionen nachhilft, langsam hinter sich her. Die Ausdehnbarkeit des Rüssels streift an das Unglaubliche. Große Bonellien, deren Körper 5 bis 6 Centimeter in der Länge mißt, können den Rüssel fast bis zu einem Meter ausdehnen und dann wieder so zusammenziehen, daß die beiden Flügelblätter des Endes fast stiellos an dem Körper anzusitzen scheinen. In Neapel habe ich mich oft an dem Spiele dieses Organes ergötzt, während ich die Würmer in meinen Aquarien lebend erhielt. Die Thiere tasteten damit offenbar den ganzen Bodenraum des geräumigen Beckens aus, das mit strömendem Seewasser gespeist war und worin sie sich lange am Leben erhielten. Wie es scheint, findet sich die Bonellie nur an sehr vereinzelten Punkten in geringer Tiefe über die Küsten des Mittelmeeres zerstreut. Lacaze fand sie im Hafen von Mahon auf den balearischen Inseln; dem alten Fischer der zoologischen Station in Cette, der seit Jahren den Grund des Etang de Thau nach Clovisses, den in der Provence beliebten eßbaren Muscheln, durchkratzt, war der Wurm ganz unbekannt geblieben, bis er ihn zufällig auffand. Da er sich aber die Stelle gemerkt hatte, fand er dort später noch einige Exemplare. In dem Busen von Neapel war seit langer Zeit nur ein einziges Exemplar vorgefunden und erst nach angestrengtem, mehrere Jahre hindurch fortgesetztem Suchen wurden einige Stellen auf den sogenannten Secca’s (erhabene Felsrücken) entdeckt, wo man fast sicher mit dem Schleppnetze einige, freilich meist ihres Rüssels beraubte Bonellien heraufbringt. Aehnlich verhält sich das Vorkommen in der Nähe von Marseille und Triest. So mögen im Mittelmeere noch manche beschränkte Fundstellen existiren, die der Zufall entdecken lassen wird.

Sehen wir uns nun das Thier etwas näher an. Die beiden Lappen des Rüssels sind platte Ausbreitungen, an ihrem inneren Rande wellenförmig eingekerbt; der Rüsselstiel ist ebenfalls abgeplattet, wie ein in der Mittellinie dickeres Bändchen; seine Ränder aber schlagen sich nach innen ein, um so eine Rinne zu bilden, die mit in steter Bewegung befindlichen Flimmerhaaren ausgekleidet ist und an dem Körper in der engen, trichterförmigen Mundöffnung endet. Die Wimperhaare erzeugen einen beständigen Strom, der kleine Körperchen, Zellen von Algen, Infusionsthierchen etc. zu dem Munde hinführt. Der Darm dreht sich von diesem Munde aus in doppelter Spiralwindung durch die geräumige Leibeshöhle, um endlich an dem Hinterende des Thieres in den After auszumünden, an welchem innen sonderbare Büschel von Organen sitzen, die mit bewimperten Trichtern in die Leibeshöhle sich öffnen und dieser wohl Seewasser zuführen mögen. Der saftgrüne Farbstoff des mit Wärzchen dicht besetzten Körpers sitzt großentheils in der Oberhaut und löst sich leicht ab. Die Haut selbst ist dicht und fest.

Das Nervensystem besteht aus einer auf der Mittellinie der inneren Bauchfläche gelegenen Ganglienkette, die eine weite Schlinge in den Rüssel sendet. Von Sinnesorganen, außer mikroskopischen Tastorganen, keine Spur; weder Augen, noch Ohrbläschen. Ebenso wenig finden sich Athemorgane, wenn man nicht die an dem Mastdarme sitzenden Wimperbüschel dafür halten will. Blutgefäße sind vorhanden; sie treiben das farblose Blut durch wellenförmige Zusammenziehungen um. Der eigenthümlich gebildete Eierstock liegt neben dem Nervenstrang und dem Hauptblutgefäße in den Windungen des Darmes verborgen. Die reifen Eier lösen sich los, fallen in die Leibeshöhle, werden dort einige Zeit hindurch umgetrieben und dann von einem mit einer weiten Trichtermündung versehenen Eibehälter aufgenommen, der sich unter dem Munde nach außen durch einen kleinen Schlitz öffnet. In diesem Eibehälter nun leben die reifen Männchen als wahre Schmarotzerthiere. Sie befruchten die Eier, welche dann nach außen entleert werden. Die Jungen, welche sich in diesen Eiern bilden, durchlaufen, frei im Meere schwimmend, eine Reihe von Metamorphosen, bevor sie ihre definitive Gestalt erhalten, in welcher sie zum Schwimmen unfähig sind und nur in der beschriebenen Weise auf dem Grunde langsam umherkriechen können. Der Rüssel mit den Endlappen bildet sich bei den weiblichen Larven erst ganz zuletzt aus; anfänglich haben dieselben einen eiförmigen, etwas in die Länge gezogenen Körper, der von zwei Wimperreifen umgeben ist und an dem abgerundeten Kopfende zwei Augen trägt.

Das ist in Kurzem der Bau und die Geschichte des Weibchens, wie sie Spengel uns kennen gelehrt hat. In den meisten Punkten schließt sich die Bonellie eng an eine kleine Gruppe von Würmern an, welche man die Sternwürmer oder Gephyreen genannt hat.

Aber das Männchen?

Ich hätte gerne, um das Verhältniß in Beziehung auf die Größe recht deutlich hervortreten zu lassen, neben die in halber natürlicher Größe ausgeführte Zeichnung des Weibchens ein in gleichem Maßstabe gezeichnetes Bild des Männchens gestellt. Es war nicht möglich, denn ein solches Bild wäre nicht einmal so lang geworden, wie ein Komma des Druckes der „Gartenlaube“, und mit Kommas hat man überhaupt in den jetzigen Cholerazeiten nicht gerne zu thun. Das Männchen erreicht in der That höchstens die Länge von einem Millimeter; es ist sechshundertmal bis eintausendmal kleiner als das Weibchen! Meist findet sich ein halbes Dutzend etwa dieser kleinen, wie ein gelbliches Würmchen aussehenden Männchen vor, die mittelst eines allgemeinen Flimmerüberzuges, wie ihn viele Infusorien und die Strudelwürmer besitzen, munter in der Flüssigkeit umherschwimmen, welche den Schlund erfüllt oder die in dem Eibehälter angehäuften Eier umspült. Es gehört gewiß nicht zu den geringsten Verdiensten Kowalewski’s, des ausgezeichneten russischen Forschers, daß er, wenn ich nicht irre, im Jahre 1873 in diesen schmarotzenden Strudelwürmchen ähnlichen Wesen die Männchen des sie beherbergenden Kolosses erkannte, die später von Vejdowski, Marion, Selenka und Spengel noch näher untersucht wurden. Man hat bis zu vierzig dieser Thierchen in dem Eibehälter gesehen – ich muß gestehen, daß ich nie mehr als acht darin gefunden habe.

Man kennt jetzt die Anatomie und Entwickelungsgeschichte dieser Zwerge ziemlich vollständig. Sie haben etwa die Gestalt einer Rübe mit abgerundetem Vorder-Ende und zugespitztem Schwanze. Durch den Besitz eines allgemeinen Wimperüberzuges ähneln sie freilich den Strudelwürmern; im Uebrigen aber zeigt ihr Bau die Grundzüge der Organisation des Weibchens, wenn auch mit bedeutenden Verschiedenheiten in der Ausführung. Die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_080.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2024)