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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

zu dreien und vieren nur ein einziges Kleid besitzen, das sie der Reihe nach anziehen, Kinder, die schon mehr Gerichtsstrafen als Lebensjahre aufzuzählen haben und die auf jede Frage - sei es auch die einfachste - unfehlbar mit einer Lüge antworten; er giebt uns Proben aus der Gaunersprache des Mercato und stellt uns einzeln die merkwürdigsten Typen vor.

Im Vorbeigehen sehen wir die große Diebskaserne im Vicolo del fuoco, in der 32 Familien von Allem entblößt beisammen wohnen, die sämmtlich auf ein besonderes Genre des Stehlens eindressirt sind. Sie gehen des Nachts mit einer langen Schnur, woran ein großer Haken befestigt, durch die Gassen, und wo sie Wäschegegenstände an den Fenstern hängen sehen, werfen sie diese Schnur sehr geschickt wie einen Lasso hinauf und entfliehen mit der herabgezerrten Beute.

Von da bringt uns Jarro nach der Schule, wo die künftigen Diebe von erprobten Meistern der Profession herangebildet werden. Die Kinder sind unter den Begabtesten ausgewählt, haben ihre Prüfungen zu bestehen und erhalten demgemäß ihre Aufträge.

Eines Abends läßt Jarro sich von einem seiner im Ghetto ansässigen Freunde zu der Unterrichtsstunde der Gauner führen. Mit einem großen schmutzigen Hut, den ihm der Freund aufnöthigt, und mit einem Korb am Arm, über dessen legitimen Besitz Jarro selber Zweifel aufsteigen, macht er sich auf den Weg.

In einem elenden Wirthszimmer, wo sonst nur die anrüchigsten Subjekte mit ihren Dirnen sich versammeln, sieht er vier Kinder zwischen neun und dreizehn Jahren.

Ihr Lehrer, so erzählt Jarro, hatte sie darauf aufmerksam gemacht, daß ein Bauer in das Zimmer kommen werde, mit einem Bündel in der Hand und einem Portemonnaie in der Tasche. Also aufgepaßt!

Der Gast kam mit dem Bündel, das er neben sich auf die Bank legte. Er war selbst ein Dieb und einer von den erfahrensten, aber er war so gut verkleidet und kam mit so harmloser Bauernmiene herein, daß ihn die Kinder nicht erkannten. Der Bauer setzt sich, der Lehrer tritt auf ihn zu und knüpft ein Gespräch an. Der Bauer ladet ihn zu einem Glas Wein ein, der Andere setzt sich gleichfalls, giebt aber den Knaben einen Wink. Die Kinder drängen sich nun um den vermeintlichen Bauer, als wollten sie Späße mit ihm treiben. Ich sah, wie Einer ihm das Portemonnaie herauszog, wie der zweite das Bündel nahm, die zwei Anderen empfingen die gestohlenen Gegenstände und warfen sie neben unser Versteck, wo mein Führer vor Angst zitterte.

Wir gingen sogleich, ich hatte genug. „Der vermeintliche Bauer,“ so erklärte mir mein Führer unterwegs, „hat sich still verhalten, weil ihn die Kinder gut bestohlen haben. Das Portemonnaie, das sie hierher warfen, ist leer und ich kann Ihnen sagen, daß es vielleicht erst heute Morgen zu diesem Zweck gestohlen worden ist.“

Wundersam sind die Erinnerungen eines andern seiner Freunde, die ich noch der Merkwürdigkeit wegen hierher setzen will, obgleich sie nicht auf dem Mercato spielen.

Der alte G. war in seiner Jugend Briefträger zwischen Florenz und Pontasieva. Eines Nachts wurde er unterwegs von unbekannten Strolchen aufgegriffen und durch Drohungen genöthigt, in Gemeinschaft mit ihnen in einer benachbarten Kirche einzubrechen und die Leiche eines kürzlich Bestatteten zu berauben. Als er seinen Gefährten Schmuck und Kleider des Todten heraufgereicht hatte und wieder aus dem Grabe steigen wollte, stießen ihn die Strolche zurück und nach einem verzweifelten Ringen wurde die Gruft über ihm geschlossen.

Kaum hatte er Zeit gehabt, sich über seine furchtbare Lage klar zu werden, als er schon wieder Schritte über seinem Kopfe hörte, der Stein wurde aufgehoben. und ein Individuum stieg in die Gruft herab, offenbar ebenfalls in der Absicht die Leiche zu plündern, bat aber gleich die Gefährten, ihm eine Prise Tabak zu reichen wegen des unerträglichen Geruchs.

Da sprang unser G. auf die Füße und forderte mit hohler Stimme gleichfalls eine Prise. Von Schreck gepackt rannten die Diebe davon und G. konnte sich retten.

Unverschuldetes Elend hat den Unglücklichen später ebenfalls in das Grab der Lebendigen, nach dem Mercato Vecchio, gebracht.

Die Feder sträubt sich, all das Elend und die Gräuel nachzuerzählen, die in diesem Büchlein verzeichnet stehen. Wir wollen weder in die unterirdischen, von Feuchtigkeit triefenden Höhlen treten, wohin die Gossen abträufeln, wo sieben bis acht Personen auf einer Lagerstätte beisammen liegen, wo Morgens Kinder todt gefunden werden, von den Großen im Schlaf erdrückt, noch wollen wir hinter die Treppen kriechen, wo in einem Raum von wenigen Metern mehrere Schlafstellen zum Vermiethen aufgeschlagen sind, noch in die vermauerten Winkel, wo menschliche Gerippe ausgegraben werden. Aber ich kann es mir nicht versagen, noch einige der merkwürdigsten Typen dieser unbekannten Welt hierher zu stellen.

Hier ist z. B. das Exemplar eines Hehlers: „Er geht immer schwarz gekleidet, im Cylinder, sucht jeden Anlaß, um auf der Straße Jemand zu grüßen und zu thun, als habe er vornehme Bekanntschaften. Zuweilen zieht er den Hut ab, wenn ein Herrschaftswagen vorüberfährt, und schneidet seine unterthänigsten und auffallendsten Kratzfüße. Die so Gegrüßten geben den Gruß zurück und fragen sich, wer wohl dieser ceremoniöse Patron sein möge. – Er ist glatt, rothwangig, wohlgenährt. Er geht viel in die Kirche, legt sein Sacktuch unter die Kniee, zieht den Rosenkranz hervor – dieser Fromme ist ausgezeichnet in der Herstellung falscher Schlüssel.“

Die Hehler üben gewöhnlich eine bürgerliche Profession aus, aber der Kramladen, die Werkstatt sind nur Aushängeschilde. Ihre eigentlichen Geschäfte machen sie mit den Dieben, die in ihren Diensten stehen und denen sie das sauer erworbene Stück Brot schmälern. Denn der Dieb ist meist so arm wie eine Kirchenmaus, während der Hehler immer reich wird.

Ein anderer eigenthümlicher Typus ist der Spion, der übrigens selten vorkommt. Diese verwahrloste Gesellschaft hat auch ihren Ehrenpunkt. Stehlen, besonders mit Geschick und straflos, ist rühmlich. Wer schon zehn bis zwanzig Mal im Gefängniß gesessen, genießt hohes Ansehen, wer gar in so und so viel Processen freigesprochen worden, steht auf der obersten Sprosse ihrer Hierarchie. Aber den Dieb, den Gefährten des Geldes wegen verrathen, gilt für schmachvoll. Wenn es doch vorkommt, geschieht es aus Rache oder Eifersucht.

Ein gewisser E. war ein berühmter Spion. Jahrelang war er einer der durchtriebensten Diebe gewesen, aber eines Tages hatte er sich von den Seinigen losgesagt und sich in den Dienst der Polizei begeben. Er kleidete sich mit einem gewissen Pomp, ging nur im Cylinder, aber er stand in tiefster Verachtung und wurde tödlich gehaßt.

Wenn gewisse Geschäftsleute, bei denen das niedere Volk einkauft, einen Hut, eine Kravatte oder dergleichen aus der Mode bringen wollten, so ließen sie den E. rufen und schenkten ihm den betreffenden Gegenstand. Wer nun ein ähnliches Stück besaß, warf es alsbald weg, kam in den Laden und kaufte sich ein anderes.

E. besaß einen unerschütterlichen Muth. Die Polizei bat ihn stets zu sagen, was er wisse, aber sich nicht auszusetzen. Es war jedoch alles vergebens. Er wollte um jeden Preis die Patrouillen begleiten, es war seine Passion, die Vergehen seiner früheren Kameraden aufzudecken, mit der Polizei in ihre Höhlen einzudringen, sich zuerst der Gefahr entgegenzustürzen und die Gauner bei der Brust zu packen, die er sonst umarmt hatte. – Die Rache, welche die Polizei fürchtete, ließ nicht lange auf sich warten. Eines Tages wurde er bei hellem Sonnenlicht in einer der belebtesten Straßen von Florenz erdolcht. Aber er starb zufrieden, nachdem er seinen Mörder angezeigt, froh, daß sein Tod wenigstens einen seiner ehemaligen Genossen ins Zuchthaus brachte.

Wir sind am Ziele unserer Wanderung. Aus den Höhlen des Ghetto heraus führt uns ein einziger Schritt in die breite elegante Via de Cerretani, und über die Katakomben des unterirdischen Florenz hinweg sehen wir, oben im lichten Sonnenschein zwischen den Ständen der Blumenverkäufer durch, die Herrschaftswagen zum Corso donnern. Da liegen sie hinter uns in ihrer Bettlermajestät, die zerbröckelten Paläste, Thürme und Kirchen des Mercato, und wir wissen jetzt, warum keine Fürbitte der Kunstkenner ihnen ihr historisches Dasein mehr fristen kann.

Ein schweres Stück Arbeit mag es werden, diese nächtliche Welt aus ihren Verstecken heraus zu treiben. Haben wir doch vor Kurzem gesehen, wie verzweifelt die Besitzer der alten Buden des Mercato sich wehrten, als sie bei Niederreißung der Beccheria expropriirt wurden, bis es der bewaffneten Macht gelang, sie mit Gewalt nach der neuen eleganten Markthalle in Via dell'Ariento zu versetzen.

Ganz Florenz aber sieht diesem Tag mit Spannung entgegen. Die Gelehrten erwarten von der Demolirung des Mercato die wichtigsten topographischen Aufschlüsse und hoffen mit Bestimmtheit, unter der Erde die Grundmauern des alten Kapitols und vielleicht unschätzbare Kunstwerke aus der Römerzeit zu finden. Das Volk dagegen glaubt, daß in den geheimen Gängen des Ghetto die Schätze der Juden aus den Zeiten ihrer Unterdrückung vergraben liegen.

Dann wird an die Stelle des alten Mercato ein weiter luftiger Platz mit bequemen Häusern und Säulengängen treten, von breiten schnurgeraden Straßen durchzogen, die den „modernen Erfordernissen“ entsprechen, ein Platz, auf dem Schutzmann und Spazzaturajo [1] herrschen, reinlich, sicher – aber langweilig. Isolde Kurz.     



  1. Straßenkehrer.

Blätter und Blüthen.

Auf dem Eise. (Mit Illustration S. 76 und 77.) Parkettboden und Eisbahn sind wahlverwandte Dinge und – identische Begriffe, wenigstens in den Augen eines gewissen Alters. Beide sind der fröhlichen Jugend unentbehrlich in einem regelrecht genießbaren Winter, denn wie sollten sich wohl all die jungen, ungestüm pochenden Herzen zusammenfinden, wenn nicht auf jenem glatten blanken Boden, auf dem es sich so graziös gleiten und tändeln läßt, und wo die Blicke und Herzen so leichtbeschwingt sind wie Schmetterlinge über dem Blumenbeete. Sei’s „koloniale“ Hitze, sei’s Nordpolkälte, auf diesem Boden gedeiht das Pflänzlein Liebe stets wohlgemuth und entfaltet sich zu stattlicher Blüthe. Und welch herrliche Schnippchen werden nicht all den argwöhnischen „Eismüttern“ geschlagen, diesen beklagenswerthesten aller Mütter! Hier maskirt die Schlittschuhbefestigung den Fußfall des liebeglühenden Jünglings, dort befördert die anscheinende Furcht vor einer „Carambolage“ die zündenden Blicke der Verliebten, hier verbirgt das „helfende“ Führen der Unsicheren den beredten Händedruck und dort gar fällt man plötzlich nieder, um sich von zärtlichen Armen wieder aufrichten zu lassen. – Doch verrathen wir nicht zu viel, um den glatten Boden nicht in Mißkredit zu bringen und Jenen keine Verlegenheiten zu bereiten, die in heiterer Lust sich darauf bewegen. Man soll nicht „aus der Schule plaudern“, und es thut nicht gut, der Jugend das Spiel zu verderben! – r.     


Chloris. (Mit Illustration S. 81.) In einer Lenznacht erblickte Zephyr die schöne Chloris, wie sie lieblich und träumerisch aus ihres Vaters Hallen ins Freie getreten war. Der Gott hob sie zu sich empor, verlieh ihr als

Morgengabe die Herrschaft über das Reich der Blumen und gewährte ihr,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_087.jpg&oldid=- (Version vom 12.3.2024)