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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

„Armes Fähnchen! Frisch ist’s freilich nicht mehr. Es mußte mit mir durch Pyramiden und Katakomben kriechen und ist von Gletschereis und Gebirgsregen oft windelnaß gewesen – der gute, alte Kamerad! Nun habe ich mich seiner geschämt und ihn verleugnet! Onkel Herbert kann’s bezeugen, daß ich mir selbst nicht schön genug war, um vor dem hohen Besuch zu debütiren.“ –

„Ich bitte Dich ums Himmelswillen, Kind, thue mir den einzigen Gefallen und fahre Dir nicht so nach Jungenart durch die Haare!“ unterbrach sie die Großmama. „Eine schauderhafte Angewohnheit! Wie kommst Du nur auf die wahnsinnige Idee, Dir das Haar kurz zu schneiden?“

„Ich mußte, Großmama, und ohne ein paar heimliche Thränen ist’s auch nicht abgegangen, das leugne ich gar nicht. Aber es war oft zum Verzweifeln, wenn die Zöpfe Morgens beim Flechten kein Ende nehmen wollten und Onkel Theobald draußen vor der Thür wartete und auf- und ablief vor Ungeduld und Angst, daß wir den Zug oder die Post versäumen könnten. Und da machte ich kurzen Proceß, als es nach Olympia gehen sollte, und griff zur Scheere. Ich hätte mich kahl geschoren, wenn es nöthig gewesen wäre, so ungeduldig und auf das Weiterkommen erpicht war ich selbst ... Uebrigens ist die Sache gar nicht so schlimm, Großmama. Mein Struwwelhaar wächst wie Unkraut, und ehe Du Dich versiehst, ist wieder ein ganz respektabler Zopf da.“ –

„Da kannst Du warten,“ warf die alte Dame trocken ein. „Unsinn, kapitaler Unsinn!“ platzte sie dann zornig heraus. „Tante Elise konnte auch besser aufpassen und den Streich verhindern!“

„Die Tante? Ach, Großmama, da sieht’s erst schlimm aus! Mindestens um eine Handbreit kürzer, als dies“ – sie zog einen ihrer Lockenringel mit einem schelmischen Lächeln in die Länge.

„Na, Ihr mögt ein schönes Zigeunerleben führen auf Euren gelehrten Touren!“ rief die alte Dame indignirt und strich nervös erregt einige Tortenkrümel auf dem Tafeltuch zusammen. „Wie meine Schwester es fertig bringt, sich den Berufsstudien ihres Mannes so unterzuordnen, das ist mir geradezu unfaßlich. Wo bleibt da das Recht der Frau auf die eigene angenehme Lebensstellung? .. Nun, es ist ihre Sache – wie man sich bettet, so liegt man ... Aber was soll nun werden? Sieh Dir doch einmal das Mädchen an, Balduin! Jahre können vergehen, bis sie wieder präsentabel ist ... Ich frage Dich, Grete, wie willst Du es anfangen, in dem kurzen Gewirr eine Blume fest zu stecken, von einem Schmuckstück gar nicht zu reden? Die Rubinsterne zum Exempel, die Deiner seligen Mama so unvergleichlich standen.“ –

„Ah, die ‚Karfunkelsteine‘? Die schöne Dore im rothen Salon hat sie auf dem Toupet?“ fiel Margarete lebhaft fragend ein.

„Ja, Gretel, dieselben,“ bestätigte der Kommerzienrath, der sich bis dahin schweigend verhalten und eben ein Glas Champagner rasch geleert hatte, an Stelle der Großmama. Er war erblaßt, aber die Augen glühten ihm unter der Stirn, und seine Finger umklammerten das Glas, als wollten sie es zu Scherben zerdrücken. „Ich habe Dich herzlich lieb, Kind, und will Dir geben, was Dein Herz verlangt; aber die Rubinsterne schlage Dir aus dem Sinne – so lange ich lebe, kommen sie in kein Frauenhaar mehr!“

Die Frau Amtsräthin fuhr sich mit dem Taschentuch über die Augen und sah mit traurig gesenkten Mundwinkeln in ihren Schoß nieder. „Ich begreife, ich verstehe Dich, lieber, lieber Balduin,“ sagte sie in tiefmitfühlendem Ton. „Du hast Fanny allzusehr geliebt!“

Ein bitteres Lächeln flog über sein Gesicht, und er hob die breiten Schultern, als wolle er eine namenlose innere Ungeduld abschütteln. Klirrend stieß er das Glas auf den Tisch und ging mit dröhnenden Schritten in das Nebenzimmer, die Thür hinter sich zudrückend.

„Armer Mann!“ sagte die Frau Amtsräthin halblaut und beschattete einen Moment mit der Hand die umflorten Augen. „Ich bin untröstlich über meine Ungeschicklichkeit – ich hätte nicht an diese nie heilende Wunde rühren sollen! ... Und gerade heute war er so heiter, ich möchte sagen, ‚stolz glücklich‘! Seit Jahren habe ich ihn zum erstenmal wieder lächeln sehen ... Ach ja, es waren aber auch wieder einmal ein paar himmlisch schöne Stunden, unvergeßlich schön und beglückend! ... Nur Eines hat mir ein paarmal thatsächlich den Angstschweiß auf die Stirn getrieben, liebste Sophie!“ – das leise Aneinanderklirren

des Silbers hinter ihr verstummte, Tante Sophie horchte pflichtschuldigst dem, was kommen sollte – „Es wurde zu langsam servirt. Mein Schwiegersohn wird wohl für solche Fälle noch helfende Hände acquiriren müssen –“

„Gott behüte, Großmama, was soll denn das kosten?“ protestirte Reinhold. „Wir haben unsern Etat für dergleichen, und der wird absolut nicht überschritten. Franz muß eben seine faulen Beine besser rühren! Ich werde künftig schon Feuer dahinter machen!“

Die Großmama schwieg. Sie nahm ein paar halbwelke Rosen, die Fräulein Heloise von Taubeneck in der Hand gehabt und auf ihrem Platz zurückgelassen hatte, und steckte ihr spitzes Näschen hinein – sie widersprach dem erregbaren Enkel nie direkt. „Es war aber hauptsächlich noch ein Bedenken, das mir im Verlauf des Essens beängstigend aufstieg, beste Sophie –“ sagte sie nach einer augenblicklichen Pause über ihre Stuhllehne zurück – „war nicht doch das Menu in etwas zu derber Weise zusammengesetzt? Wissen Sie, Liebste, ein wenig zu spießbürgerlich für unsere hohen Gäste? Und das Roastbeef ließ auch viel zu wünschen übrig.“

„Sie brauchen sich wirklich nicht zu ängstigen, Frau Amtsräthin,“ entgegnete Tante Sophie mit ihrem heitersten Lächeln. „Der Küchenzettel war, wie ihn die Jahreszeit giebt, und ein Schelm giebt mehr als er hat. Und das Roastbeef war gut, wie es immer auf unsern Tisch drunten kommt. Draußen im Prinzenhof verlangen sie das ganze Jahr durch kein so feines, theures Stück, wie mir der Hofmetzger sagt.“

„So! – Hm!“ räusperte sich die Frau Amtsräthin und vergrub ihr Gesicht einen Augenblick förmlich in den Rosen. „Ach, dieser köstliche Duft!“ lispelte sie. „Sieh ’mal, Herbert – diese weiße Theerose ist eine Neuheit aus Luxemburg, wie mir Fräulein von Taubeneck sagte. Der Herzog hat sie ganz extra für den Prinzenhof kommen lassen.“

Der Herr Landrath nahm die Rose. Er besah ihren Bau, prüfte den Duft und gab sie seiner Mutter zurück, ohne eine Miene zu verziehen.

Wer sah diesem Mann an, daß er einst eine solche weiße Rose mit einer Wuth und Gluth, als sei er plötzlich wahnwitzig geworden, geraubt und vertheidigt und um keinen Preis wieder herausgegeben hatte? Margarete hatte diesen räthselhaften Vorgang nie vergessen können, und jetzt war er ihr freilich kein Räthsel mehr – der damalige Primaner hatte das schöne Mädchen im Packhause offenbar geliebt; es war eine erste schwärmerische „Schülerliebe“ gewesen, die er von seinem jetzigen Standpunkt aus natürlicherweise mitleidig belächelte. Die Zeit der Lyrik war längst vorüber, und die strenge Prosa des trockenen, berechnenden Verstandes war an ihre Stelle getreten.

Da war der Papa, der sich eben mit seinem Schmerz in das Nebenzimmer geflüchtet, doch ein Anderer! Er konnte nicht vergessen. – Das Herz wallte ihr über von Mitleid und warmer, kindlicher Liebe – kaum wissend, daß sie es that, öffnete sie geräuschlos die Thür, die er hinter sich geschlossen und schlüpfte in das Zimmer.

Der Kommerzienrath stand unbeweglich in der dunkelnden Fensternische, in die nur ein schwacher Schein der Hängelampe fiel, und schien auf den Markt hinauszusehen Der dicke Teppich machte die leichten Mädchentritte unhörbar, und so stand sie plötzlich hinter dem in sich versunkenen Manne und legte ihm sanft schmeichelnd die Hände auf die Schultern.

Er fuhr herum, als sei die Berührung ein Faustschlag gewesen und starrte mit verstörten, wie wahnwitzig blickenden Augen der Tochter in das Gesicht. „Kind,“ stöhnte er, „Du hast eine Art, die Hand aufzulegen –“

„Wie meine arme Mama?“

Er preßte die Lippen auf einander und wandte sich ab.

Aber sie schmiegte sich fester an ihn. „Lasse Deine Grete da, Papa! Schicke sie nicht fort!“ bat sie weich und innig. „Der Gram ist ein schlimmer Kamerad, und mit dem lasse ich Dich nicht allein ... Papa, ich werde zwanzig Jahre alt – gelt, schon ein recht altes Mädchen? – und habe mich ganz gehörig draußen in der Welt umhergetummelt. Ich habe viel gehört und gesehen, für alles Schöne und Große die Augen redlich aufgethan und mir manche Lehre ‚brav hinters Ohr geschrieben‘, wie Tante Sophie sagt ... Und die Welt ist so wunderschön.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_107.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2019)