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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Im Treppenhause fing sich der Zugwind – kein Wunder! – in der Bel-Etage stand ein Flügel des großen nach dem Hofe gehenden Fensters offen, und der Sturm, der von Norden herüber das Dach des Packhauses kam, schnob direkt herein und zog wie Orgelton an den hallenden Wänden hin.

Beim Herabkommen sah Margarete ihren Vater an dem Fenster stehen. Der Sturmwind fuhr ihm gegen die breite Brust und zerwühlte das volle Kraushaar auf seiner Stirn.

„Willst Dir wohl heruntergehen!“ rief er heftig in das Tosen und Klingen hinaus und winkte mit dem Arm über den Hof hin.

Die Tochter trat an seine Seite. Er schrak zusammen und wandte ihr hastig sein tieferregtes Gesicht zu.

„Der Tollkopf dort will sich wahrscheinlich das Genick brechen!“ sagte er gepreßt und zeigte nach dem offenen Gang des Packhauses.

Dort stand der kleine Max auf dem Geländersims des Ganges. Er hatte den linken Arm leicht um den einen der Holzpfeiler gelegt, welche das weit hervorspringende Dach trugen; den anderen streckte er deklamatorisch in die brausenden Lüfte hinaus und sang; aber es war keine zusammenhängende Melodie; er schlug nur die einzelnen Töne der Scala an und ließ sie schwellen und aushallen, als wolle er übermüthig die Kraft seiner kleinen Lunge mit der des Sturmes messen. Das waren die vermeintlichen Orgeltöne gewesen. Uebrigens mochte er den Zuruf aus dem Vorderhause nicht gehört haben, denn er setzte von Neuem ein.

„Der fällt nicht, Papa!“ sagte Margarete lachend. „Ich weiß am besten, was man in diesem Alter riskiren kann. Das Gebälk auf unserem obersten Hausboden könnte ganz andere Dinge von meinen Seiltänzerkünsten erzählen … Und der Sturm kann ihm nichts anhaben, er hat ihn im Rücken … Freilich dem alten Holzwerk da drüben ist nicht zu trauen –“ sie zog ihr Taschentuch hervor und ließ es zum Fenster hinausflattern.

Dieses Signal bemerkte der Kleine sofort. Er verstummte und sprang von seinem hohen Posten. Sichtlich erschrocken und verlegen, machte er sich allerhand auf dem Gange zu schaffen; er mochte sich schämen, beobachtet worden zu sein.

„Das Kerlchen hat Gold in seiner Kehle,“ sagte Margarete. „Aber er ist ein kleiner Verschwender. Mit zwanzig Jahren wird er wohl nicht mehr so unsinnig in den Sturm hineinsingen, dann wird er das kostbare Material zu schätzen wissen … Den bekommst Du nicht in Deine Schreibstube, Papa – das wird einmal ein großer Sänger.“

„Meinst Du?!“ Sein Auge funkelte sie eigenthümlich, fast feindselig an. „Ich glaube nicht, daß er dazu geboren ist, Andere zu amüsiren.“

Damit griff er nach dem Fenster, um es zu schließen; aber in demselben Augenblick riß ihm ein heulender Windstoß den Fensterflügel aus der Hand, ein Stoß von so erschütternder Wucht, wie er selbst in der vergangenen wilden Nacht nicht die Hausmauern erzittern gemacht hatte. Was in den nächsten Sekunden vorging, die beiden vom Fenster Zurücktaumelnden sahen es nicht – sie meinten, der Orkan fege das alte Kaufmannshaus und Alles, was in ihm lebe und athme, mit einem einzigen Ruck vom Boden weg – ein furchtbarer Krach, ein nervenerschütterndes Getöse von stürzendem Trümmerwerk, dann ein momentanes Verbrausen, als erschrecke der Wütherich selbst vor der Zerstörung und wage es kaum, an die undurchdringliche, graugelbe Wolke zu rühren, die plötzlich den Hof füllte!

Das Packhaus! Ja, von dorther wogten und wallten die Staubmassen!

Mit einem wilden Satze sprang der Kommerzienrath an der Tochter vorüber und die Treppe hinab. Margarete flog ihm nach, aber erst im Hofe gelang es ihr, seinen Arm zu umklammern – stumm vor Entsetzen, konnte sie ihm nicht sagen, daß er sie mitnehmen solle.

„Du bleibst zurück!“ gebot er und schüttelte sie von sich. „Willst Du auch erschlagen werden?“

Das waren Laute, die ihr durch Mark und Bein gingen, und sie meinte zu sehen, wie sich ihm das Haar über dem verzerrten Gesicht sträube.

Er stürmte fort, und sie griff nach dem nächsten Lindenstamm, um sich auf den Füßen zu erhalten; denn eben brauste es wieder über den Hof hin. Ein Wirbel fuhr in die Staubwand, trieb die kämpfenden Wolken erstickend nach dem Vorderhause und schleuderte sie dann hoch hinauf gegen den dämmernden Himmel.

Nun traten auch wieder feste Umrisse aus dem schleierhaften Gemenge. Das Packhaus stand noch, aber als kaum zu erkennende Ruine. Die untere Hälfte des schweren Ziegeldaches, die den offenen Gang schützend und verdunkelnd weit überragt hatte, war in ihrer ganzen Länge herabgestürzt und hatte die Stützpfeiler und das Ganggeländer mitgerissen. Drunten thürmten sich die Trümmer bis über die Fenster des Erdgeschosses, und noch rutschten gelockerte Sparren und Ziegel nach und stürzten prasselnd herab.

Es war ein lebensgefährlicher, von den niederregnenden Nachzüglern schwer bedrohter Weg über den Trümmerhaufen – Margarete sah angsterfüllt ihren Vater über das Chaos hinklettern, hier versperrende Balken zur Seite schleudernd, dort bis über die Kniee zwischen Sparrwerk und Ziegelscherben einsinkend, aber er kämpfte sich binnen wenigen Sekunden durch und verschwand im Dunkel des Thorweges.

Verschiedene Aufschreie von den Fenstern des Vorderhauses her hatten seine Anstrengungen begleitet, und nun stürzten alle Insassen des Hauses in den Hof heraus – Tante Sophie, das gesammte Dienstpersonal, und fast zugleich auch die Herren aus der Schreibstube. Sie alle scheuchte der Sturm sofort dahin, wo Margarete stand, unter die Linden, an die festen Mauern des Weberhauses.

Nun, dem Herrn konnte nichts mehr geschehen! Die mächtige Thorwölbnng dort, welche ihn aufgenommen, rüttelte auch der wüthendste Orkan nicht um; aber das Kind, das arme „Jüngelchen“, das war mit heruntergerissen, das lag erschlagen unter der grausen Last! Eben noch hatte es Bärbe von ihrem Küchenfenster aus auf dem Gange stehen sehen.

Das Gesicht der alten Köchin war fahl vor Entsetzen, wie das eines Gespenstes; aber noch im Laufen und gegen den Sturm kämpfend sagte sie mit zitternden Lippen: „Na, Ihr Leute da ist’s ja! Hat nun die alte Bärbe Recht oder nicht?“

Es war kaum zu verstehen, so erstickt von Staub, Sturm und Schrecken klang die Stimme; aber gesagt mußte es werden.

Tante Sophie band ihr Taschentuch um die flatternden Haare und nahm ihre Röcke fest zusammen. Ihr standen die Worte noch nicht wieder zur Verfügung, aber Hand und Fuß waren flink zum Handeln geblieben. Trotz der immer noch fallenden Ziegel und Holzstücke und des sie wüthend umfauchendcn Sturmes eilte sie über den Hof, nach dem Trümmerhaufen, unter welchem das arme, erschlagene Jüngelchen liegen sollte, und die Anderen folgten ihr unverweilt. Aber fast zu gleicher Zeit erschien auch der Kommerzienrath droben in der offenen Küchenthür, welche auf den Gang herausführte. Er winkte abwehrend mit der Hand. „Zurück! Es ist Niemand verunglückt!“ rief er hinab.

Nun Gott sei Dank! Die Gesichter hellten sich auf. Mochte doch nun noch von dem wackeligen Dach herabfallen was wollte – es that Niemand weh, und den sonstigen Schaden heilten Zimmermann und Dachdecker. Man konnte getrost in den schützenden Hausflur retiriren.

„Na ja – um ein Haar war’s geschehen!“ sagte Bärbe in resignirtem Tone und rieb sich mit der Schürze den Staub vom Gesicht. „Es ist mir unbegreiflich, daß der Junge davon gekommen ist – rein unbegreiflich! Im allerletzten Augenblicke stand er doch gerade noch beim Geländer.“

Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

„Na, es hat doch so sein sollen, und es ist ja ein Glück, ein Tausendglück, daß nicht das Allerärgste passirt ist. Für unser Haus wär’s ja auch ganz schrecklich gewesen, und Niemand von uns hätte in seinem ganzen Leben wieder froh werden können –“

„Sei nicht so einfältig, Bärbe!“ fuhr Reinhold auf sie hinein. Er war vorhin in dem Hausflur zurückgeblieben, weil er im Sturm mit Recht seinen gefährlichsten Feind fürchtete. „Du thust ja wirklich, als sei Eines von unserer Familie in Gefahr gewesen, und die Lamprechts hätten womöglich Trauer anlegen müssen, wenn der Malerjunge verunglückt wäre. Albernes Gewäsch! – Aber so seid Ihr Alle! Nur was Eures Gleichen angeht, kann Euch alteriren; der Schaden aber, den die Herrschaft von der dummen Geschichte hat, der ist für Euch Lappalie! Ihr denkt, wir haben das Geld scheffelweise, und da kann drauf und drein gehaust und gewüstet werden – ich kenne Euch!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_159.jpg&oldid=- (Version vom 24.1.2020)