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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Und gestern in aller Frühe hatte er verabredetermaßen mit dem Schlitten vor der Thür gehalten, um Margarete mitzunehmen. Er habe seinem Vater eine Mittheilung über das verpachtete Gut zu machen, hatte er gesagt, und da sei es die beste Gelegenheit auch für sie, den Großpapa zu begrüßen. Dann waren sie hingeflogen über die weite, weiße Fläche draußen. Der Himmel war eine kompakte Schneewolkenmasse gewesen, und eisige Windstöße hatten ihnen um die Ohren gepfiffen und ihr den Schleier vom Gesicht gerissen. Die Zügel mit einer Hand haltend, hatte er schleunigst die flatternde Gaze erfangen, war aus dem Aermel seines weiten Pelzes geschlüpft und hatte den freigewordenen Theil der zottigen Hülle um den frostbebenden Körper des jungen Mädchens geschlagen.

„Lasse doch!“ hatte er gleichmüthig gesagt und trotz ihres Sträubens den Pelz noch fester um sie gezogen. „Töchter und Nichten können sich das getrost, unbeschadet ihrer Mädchenwürde, von einem Papa oder alten Onkel gefallen lassen.“

Und mit einem scheuen Seitenblicke nach dem Prinzenhofe hatte sie gemeint, man könne möglicher Weise von dort aus die Mummerei sehen.

„Nun, und wenn auch! Wäre das ein Unglück?“ hatte er mit einem lächelnden Blicke auf sie wieder geantwortet. „Die Damen werden wissen, daß das Rumpelstilzchen da neben mir gar niemand Anderes sein kann, als meine kleine Nichte. …“

Ja, freilich, die schöne Heloise war ihrer Sache so gewiß, daß sie unmöglich auf einen zweifelnden Gedanken kommen konnte!

Gegen Abend war er wieder in die Residenz zurückgekehrt, um einer letzten Sitzung beizuwohnen. In den gestrigen Tag hatte sich mithin so Vieles zusammengedrängt, daß Margarete erst heute gewissermaßen zu sich selbst kommen konnte.

Es war Sonntag. Tante Sophie war in der Kirche, und die Dienstleute, Bärbe ausgenommen, waren auch gegangen, die Predigt zu hören. So herrschte tiefe, sonntägliche Stille im Hause, die der Heimgekehrten gestattete, die Eindrücke, die sie bei ihrer Rückkehr empfangen, zu überdenken.

Sie stand auf dem Fenstertritte und sah mit umflortem Blick über den schneeflimmernden Marktplatz hinweg. … War es doch, als herrsche nicht allein draußen bittere Winterkälte – die Atmosphäre im Hause war auch kalt und frostig, wie durchhaucht von unsichtbaren Eiszapfen. … Es hatte ja früher auch oft genug Zeiten gegeben, wo ein finsterer Geist durch das alte, liebe Heim gewandelt, wo die Melancholie des Hausherrn einen Druck auf die Gemüther ausgeübt hatte. Aber das war doch nur der Widerschein seiner Verstimmung gewesen, mit welcher er sich ohnehin meist in die Einsamkeit seines Zimmers vergraben hatte. Alles, was sonst das Vaterhaus traut und anheimelnd machen konnte, war dadurch nicht alterirt worden. Er hatte sich nie in die althergebrachten häuslichen Einrichtungen gemischt, hatte stets mit vollen Händen gegeben und war somit bemüht gewesen, das Behäbige seines Hausstandes für die Seinen und die ihm dienten, zu erhalten. … Wie hatte sich das geändert!

Er saß in diesem Augenblicke auch wieder drüben auf seinem Schreibstuhle, hinter dem geliebten „Soll und Haben“, der Nachfolger; aber das Komptoir war nicht mehr allein der Schauplatz seiner Thätigkeit. Er war gleichsam überall. Wie ein Schatten spukte die lange Gestalt im Hause umher, vom Dachboden bis zum Keller hinab und erschreckte die hantirenden Leute durch sein plötzliches lautloses Erscheinen. Bärbe jammerte, daß er ihr wie ein „Gendarm“ auf den Fersen sei; er rufe die fortgehenden Butter- und Eierfrauen an sein Komptoirfenster und frage, wie viel sie in die Küche abgeliefert hätten, und dann käme er selbst hinüber und schimpfe über den „riesigen“ Verbrauch; er ziehe ihr auch frisch aufgelegte Holzstücke aus dem Bratfeuer und habe die große Küchenlampe mit einer ganz kleinen vertauscht, die sich wie ein Fünkchen in der mächtig weiten Küche ausnehme, und wobei sich der Mensch die alten Augen blind gucken müsse.

„Geld verdienen, Geld sparen!“ Das war jetzt die Devise, und die kalten, blutleeren Hände an einander reibend, versicherte der junge Chef bei jeder Gelegenheit, jetzt erst solle die Welt wieder das Recht haben, die Lamprechts als die Thüringer Fugger zu bezeichnen – unter den letzten beiden Chefs sei der Geldruhm halb und halb in die Brüche gegangen.

Ueber Tante Sophiens Lippen war bis jetzt noch kein anklagendes Wort gekommen; aber sie war recht blaß geworden, das frische, geistige Leben war wie weggewischt aus ihrem lieben, treuen Gesicht, und heute Morgen beim Kaffee hatte sie gesagt, daß sie mit nächstem Frühjahre ein paar Stuben und eine Küche an ihr Gartenhaus anbauen lasse; draußen in der schönen Gottesnatur zu wohnen, das sei immer ihr stiller Wunsch gewesen.

Jetzt kam sie über den Markt her. Die Kirche war aus. Massenhaft strömten die Andächtigen die Gasse herab, die von der Kirche nach der „Galerie“, dem stattlichen, die Ostseite des Marktes begrenzenden Pfeilergang führte. Dort wehten Schleier und Hutfedern, schleiften Sammet und Seide über die Steinplatten. Reich und Arm, Alt und Jung, wanderten sie neben einander, ihres Lebens und Daseins so sicher und gewiß – und vielleicht nächsten Sonntag schon ging so Mancher nicht mehr mit. Wer hört das Rauschen des Zeitwaltens über seinem Haupte? – So sicher und gewiß waren einst auch die stolzgeschmückte Frau Judith und die schöne Dore den Weg über den Markt hergegangen, den jetzt Tante Sophie in ihrem neuen Pelzmantel beschritt.

Auch die Kurrendeschüler kamen choralsingend daher. Margarete zog ihr Pelzjäckchen über der Brust zusammen und ging hinaus, die Tante an der Thür zu begrüßen, und in dem Augenblicke, wo sie den Thorflügel öffnete, stimmten die jungen Kehlen draußen das herrliche „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“ in ergreifender Weise an.

„Hab’ mir’s ganz extra für den Sonntag bestellt – sonst werden nur Choräle gesungen,“ sagte Tante Sophie eintretend und schüttelte den Schnee von den Schuhen. Aber Margarete hörte kaum, daß sie sprach. Sie stand und horchte athemlos auf den hohen Sopran, der seraphimgleich, sieghaft und silberklar über den anderen Stimmen schwebte.

„Nun ja, ’s ist der kleine Max aus dem Packhause,“ sagte die Tante. „Der kleine Kerl muß nun auch ums liebe Brot singen.“

Margarete trat auf die Schwelle der halboffenen Thür und sah hinaus. Dort stand er, das schwarze Barett auf den Locken, die blühenden Wangen noch tiefer geröthet durch die scharfe Winterluft, und mit den Tönen, die der warmen, jungen Brust entquollen, wurde der Hauch des Athems zum Dampf vor seinem Munde.

Sobald der letzte Ton verklungen war, winkte ihm Margarete, und er kam sofort herüber und neigte sich wie ein kleiner Kavalier vor der jungen Dame.

„Geschieht es mit dem Willen Deiner Großeltern, daß Du bei der Kälte vor den Thüren singst?“ fragte sie in fast unwilligem Tone, wobei sie die Hand des Knaben ergriff und ihn zu sich auf die Schwelle zog.

„Das können Sie sich doch denken, Fräulein!“ antwortete er unumwunden und wie empört. „Die Großmama hat’s erlaubt, und da ist’s dem Großpapa auch recht. Es ist ja auch nicht immer so kalt, und das macht auch nichts – die frische Luft ist mir gesund.“

„Und wie kommt es, daß Du unter die Schüler gegangen bist?“

„Ja, wissen Sie denn nicht, daß wir Jungens damit viel Geld verdienen?“ Er warf einen hastigen Blick hinter sich, wo eben die letzten kleinen Nachzügler weiter gingen. „Lassen Sie mich!“ drängte er ängstlich. „Der Präfekt zankt!“ Er zog sein kaltes Händchen gewaltsam aus der Rechten der jungen Dame, und fort war er.

„Da hat sich wohl auch Vieles im Packhause geändert?“ fragte Margarete beklommen, wie mit zurückgehaltenem Athem.

„Ja wohl, meine liebe Grete, Alles!“ antwortete Reinhold an Stelle der Tante. Er stand an seinem offenen Komptoirfenster. „Und Du sollst auch sogleich erfahren, in welcher Weise sich’s geändert hat. Habe nur zuvörderst die Freundlichkeit, die Thür zu schließen, es kommt mörderisch kalt herein. … Die Nachbarsleute werden sich wohl gefreut haben, daß Fräulein Lamprecht die selige Frau Cotta in Eisenach nachäfft und die Kurrendeschüler ins Haus ruft – schade, daß Du nicht auch einen Napf voll Suppe in der Hand hattest! Das wäre noch rührender gewesen.“

Tante Sophie schloß die Thür und entfernte sich schweigend.

„Die Tante macht jetzt immer ein Gesicht, als wenn sie Essig verschluckt hätte,“ sagte Reinhold achselzuckend. „Der neue,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_207.jpg&oldid=- (Version vom 16.3.2024)