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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Der Bürgermeister war sehr zufrieden über das Ergebniß dieser Rücksprache mit dem alten Weber, wie es ihm Georg mittheilen konnte. Er legte sich jetzt häufig im Stillen zurecht, welche Geschäfte dem Sohne nach und nach übertragen werden sollten, damit, wenn er ihn nächstens dem Landgrafen als Gehilfen in der Kanzlei vorschlüge, man gleich ausdrücklich die Materien nennen könne, für welche Georg sich schon zum Referenten brauchbar gemacht habe.

Recht unerwüuscht war es ihm daher, daß, als wenige Tage später Meister Lukas Vanderport zum Behuf weiterer Besprechung jener Angelegenheit bei ihm erschien, Georg im Hause nicht zu finden war. Er mußte dasselbe erst vor Kurzem verlassen haben, denn die Mutter schwur darauf, er sitze ja in seiner Stube, wo sie eben noch mit ihm geredet habe. Gerade in dieser Sache, die Georg schon so geschickt eingeleitet hatte, wünschte der alte Tiedemars den Sohn auf dem Laufenden zu halten, daher ihm das Fehlen desselben bei dieser Unterredung mit dem Weber sehr ungelegen kam. „Es wird meinem Georg leid thun, daß Ihr ihn nicht antrefft, Meister Lukas,“ meinte er, während er dem alten Manne artig einen Sitz anwies. Hätte der Bürgermeister gewußt, wie die Sache sich verhielt, so würde er sich verwundert haben.

Georg hatte in seiner Stube gesessen, einem Eckzimmer im zweiten Stock, dessen Fenster im Erker in die Straße hineinsprang. Dort stand sein mit Büchern und Papieren bedeckter Arbeitstisch, und er träumte gerade über seinen Skripturen, als sein Auge, durchs Fenster die Gasse hinunter schweifend, auf die Gestalt des alten Webers fiel. Der Alte kam auf das Bürgermeisterhaus zu, wahrscheinlich wollte er zum Vater. Jedenfalls aber trug ihn sein Schritt in der seiner eigenen Behausung entgegengesetzten Richtung fort, und einem raschen Gedanken folgend sprang Georg auf, raffte sein Barett vom Nagel und eilte die Treppe hinunter, bei aller Hast aber mit einer gewisseu Vorsicht, fast als wäre es ihm gerade recht, wenn ihm Niemand begegnete. Unten im Flur wendete er sich nicht rechts, der Straßenthür zu, sondern nach links in den Hof und Garten. Der Garten aber, wie wir wissen, erstreckte sich bis an die Stadtmauer, welche denen vom Bürgermeisterhause hier durch ein besonderes Pförtchen den Ausgang gewährte. Dieser Weg vors Thor war beträchtlich kürzer als der durch die Stadt; dem jungen Manne aber kam er lang vor. Dabei beschäftigte ihn nichts als der Gedanke, ob er Hilden antreffen und ob er sie – endlich einmal – allein finden werde. Ihr Vater war in der Stadt und der wahrscheinliche Fall der, daß sie indessen das Haus hüte. Wie aber, wenn der Unstern etwa eine Nachbarin hingeführt hätte!

Jetzt war er endlich am Hause und suchte durch das Blumenfenster zu spähen. Drinnen schien alles still, aber auch leer. Er klopfte an die verschlossene Hausthür, und die Minute, während der er im Hause nichts sich regen hörte, schien ihm endlos. Endlich ein leichtes Geräusch – sein Herz pochte ungestüm vor Lust – das Haus war nicht verlassen, der Schritt, der sich jetzt von innen näherte, der ihre! Die Freude darüber schien ihm so hell vom Angesicht, als er jetzt dem Mädchen wirklich Auge in Auge gegenüber stand, daß ein Abglanz davon auch auf ihren lieben stillen Zügen aufgehen mußte! Kaum wußte Georg, was er sagte, als er die Frage hervorbrachte, ob Meister Lukas zu Hause sei ... der Vater schicke ihn ...

„So, seid Ihr meinem Vater nicht begegnet?“ fragte Hilde dagegen. „Er ist in die Stadt und just zu dem Herrn Bürgermeister, in derselben Sache, in der wahrscheinlich auch Ihr kommt; denn er hat indessen mit den Nachbarn Rücksprache genommen. Wie schade, daß Ihr den Weg umsonst gemacht habt!“

Sie hielt die Thür noch immer halb offen. Da aber Georg keine Miene machte, zu gehen, kam ihr die Unfreundlichkeit, ihn nach dem langen Wege, den er gefällig unternommen hatte, so zwischen Thür und Angel abzufertigen, doch allzu groß vor, und sie forderte ihn auf, herein zu treten. Doch klang ihre Stimme nicht so sicher wie sonst wohl, und als jetzt die Thür hinter ihm ins Schloß fiel und sie in dem halbdunkeln Flur seine brennenden Augen auf sich gerichtet fühlte, da kam eine plötzliche Angst über das Mädchen. Doch ließ sie sich nichts merken, sondern führte den Gast in die Stube ... „Wollt Ihr ein wenig verziehen, Herr?“ sagte sie, ihm einen Sessel rückend. Ihm war, als zitterten ihre Hände dabei. Er hätte sich auf sie stürzen und sie mit Küssen fast ersticken mögen, und er fühlte, daß die Leidenschaft, die ihn jetzt durchschütterte, jeden Widerstand überwältigt haben würde. Und doch zwang er sich gewaltsam zur Ruhe vor dem einen Gedanken, diesen Widerstand der stolzen keuschen Seele dieses Mädchens nicht in dem rücksichtslosen Ausbruch seines Gefühles zu besiegen, sondern gleichsam zu schmelzen, sie zu zwingen auch ihn zu lieben!

Und wenn er sie jetzt so ansah, die edeln Züge, die heute nicht den beinahe herben Ausdruck wie sonst wohl, die etwas Weiches, fast etwas Leidendes hatten, dann überkam es ihn wie eine Ahnung unsäglichen Glückes. Gesprochen hatten sie außer den wenigen ersten Worten noch nichts, und so heftig war bei beiden der Sturm der Gefühle, daß sie von diesem Schweigen gar nichts merkten. Er trat an den Sessel, den sie ihm hingerückt hatte, als wollte er sich setzen; Keines wagte das Andere anzusehen, aber endlich hob sie, wie von einem Magneten gezogen, langsam die Augen zu den seinen. Ihre grauen Augen waren dunkel bewimpert, und dies einer der eigenen Reize des etwas farblosen Angesichts. Aber Georg sah jetzt keine Schönheit der Bildung, er sah nur die Seele selber, die ihn aus diesen Augen ansah, nicht streng und auch nicht begehrlich, noch nicht einmal zärtlich, sondern mit einem tiefen, flehenden, um Schonung flehenden Blick ... und in der nächsten Sekunde war Hilde, von seinen Armen umfaßt, in den Sessel gesunken, und er, auf den Knieen vor ihr, barg das Haupt in ihrem Schoße.

Hilde beugte sich über den blonden Kopf, noch immer zitternd und mit leisen, flehenden Worten. „Steht auf, Georg, was thut Ihr? steht auf ...“ Dabei strich sie ihm kosend, aber mit der allerleisesten Berührung nur, über das kurze Haar hin.

Georg erhob sich endlich. Ein halbes, weiches Lächeln spielte um seine jungen Lippen, und eine solche Morgenröthe lichter Freude lag auf dem Antlitz, daß Hilde vor der siegenden Schönheit desselben leise erschauerte und ein Bangen empfand vor der Größe der Seligkeit, die mit der Liebe dieses Mannes ihrer wartete. Sie litt es, daß er sie jetzt zärtlich in die Arme schloß, daß er ihren Kopf zurückbeugte und ihr Lippen, Augen und Stirn küßte. Und diese Küsse! das war mehr, als nur eine Berührung seines Mundes – das innerste Wesen dieser leidenschaftlichen Natur schien sich durch dieselben mit dem ihren zu verbinden ... es war ihr, als empfinde sie dabei ihn selber, seine Seele, im tiefsten Innern der ihren, als sei sie eins mit ihm geworden.

Und dann – wie denn alles in dieser Liebesstunde anders war und anders kam, als es der Mann wenigstens fähig gewesen wäre, sich vorher auszudenken – dann saßen sie beide ganz schlicht nebeneinander auf einer hölzernen Bank an der Wand und plauderten! Und wie süß dies Gespräch, in dem man nachholt, was man vorher versäumt und übersprungen zu haben glaubt, wie das nun einmal so Gang und Art der Liebe ist! Aber wehe ihr auch, oder wehe ihrer Dauer, wenn sie nichts nachzuholen findet! wenn die spätere Bekanntschaft gleichsam die Annahme des Wechsels auf Sicht verweigert, welchen die wundergleiche Vertraulichkeit des ersten, leidenschaftlichen Entbrennens ausgestellt hatte!

Wie Hilde so leicht zurückgelehnt dasaß und träumerisch und halb vor sich hin erzählte, vom Vater, von der früheren Heimath und von ihrer Jugend, da hielt Georg, neben ihr, ihre Hand mit immer neuer Lust in der seinen und trank ihr die Worte von den anmuthigen Lippen. Sie lächelte ganz leise vor sich hin, wenn er sprach und ihr sagte, wie sie vom ersten Augenblicke an den besten Theil seiner Gedanken mit sich davongetragen habe. Fing Georg aber an, von ihrer Schönheit zu reden, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich schön?“ sagte sie mit einem Tone harmlosen und aufrichtigen Zweifels, der ihn entzückte. „Mich dünkt, mir wäre lieber, wenn Ihr mir sagtet, ich gefiele Euch wie ich bin.“

„Nicht ‚Ihr‘ – sage ‚Du‘, Hilde,“ bat er schmeichelnd.

„Nun denn; Du – Du,“ ihm war, als habe noch kein Liebeswort ihn je mit einer solchen Fülle inbrünstiger Zärtlichkeit überschüttet, wie dieses Du. Die Versuchung war groß, er lag wieder zu ihren Füßen, und sie umschränkte sein Antlitz mit ihren beiden Händen, wie wohl eine Mutter ihrem Kinde thut.

„Wer von uns Beiden schön ist, weiß ich wohl,“ sagte sie, diesmal mit ihrem alten, ernsten Lächeln. „Ach, nur zu gut.“ Er hatte sich erhoben, ihre Hände waren auf seine Schultern geglitten und sie stand vor ihm und blickte ihm still in das strahlende Gesicht. „Woran denkst Du, Hilde?“ fragte er.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_214.jpg&oldid=- (Version vom 15.8.2020)