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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Fähigkeit, über seinen Kummer sich zu bekümmern. Was sich um sie bewegte, Vater und Freunde und Nachbarinnen, erschien ihr wie Schatten … alles Leben in ihr hatte sich gleichsam zurückgezogen in ein Gefühl dumpfen Schmerzes. Nur in sofern sie diesen empfand, lebte sie noch; von jedem anderen Antheil am Dasein, wie sie es bisher gekannt hatte, war sie abgeschnitten.

Der Schlag war zu schwer gewesen, den sie an jenem Abend so ahnungslos erhalten hatte: seine Folgen konnten kaum andere sein bei einer Natur von ursprünglich starkem und völlig unabgenutztem Empfinden. Da man ihr aber Zeit ließ, wieder zu sich selber zu kommen – und das wohlgemeinte, aber etwas trockene und sehr lange Beten einzelner besonders begnadeter Nachbarn an ihrem Bette hinderte sie daran nicht –, so begann ihre Natur sich langsam wieder aufzurichten. Und zuerst trat das Gefühl, welches in ihrem Leben vor dem Erscheinen Georg’s das stärkste gewesen war, die Empfindung für den Vater, wieder in seine Rechte. Wenn gerade Niemand von den Nachbarn in der Stube war, folgte Hilde dem alten Manne mit den Augen, wie er, gebeugter als sonst, im Gemache umherschlich und mit steifen Fingern sich das Geräth mühsam zusammen trug. Sobald sie einmal ganz allein war, versuchte sie sich aufzurichten und mit einem Seufzer, einer leisen Regung sehnsüchtigen Bedauerns, welches einem ganz anderen Ziel galt, dem sie sich nahe gewähnt hatte, mußte sie bemerken, daß ihre Kräfte wiederkehrten. Das Leben erschien ihr künftighin als eine Bürde, aber Hilde schickte sich an, dieselbe aufzunehmen, denn wie hätte sie die doppelte Last den müden Schultern des alten Mannes allein auflegen dürfen!

So trat denn Hilde eines Morgens zu früher Stunde völlig angekleidet wie sonst aus ihrer Kammer. Der Vater schlug zitternd die Hände zusammen, als sie mit einem etwas müden Lächeln auf ihn zukam. Er sah sie forschend an, dann nahm er die Bibel vom Sims, wo sie immer ganz nahe zur Hand lag, und während Hilde ruhig ihren gewohnten Platz an der Ecke des Tisches einnahm, schlug er auf und las mit bewegter Stimme in dem Berichte des Evangelisten Lukas die Auferweckung von Jairi Töchterlein. Das war, statt aller eigenen Worte, seine Weise, zu bezeugen, was er in einem wichtigen Augenblicke etwa empfand, und so waren das heilige Buch und der Lebensgang des Meister Lukas mit einander verwachsen, daß vermöge der Erinnerung besonderer Momente, welche sich daran hefteten, viele Abschnitte der Bibel für ihn als ebensoviel Kapitel seines eigenen Lebens gelten konnten.

Hilde hörte träumerisch auf die wohlbekannten Worte. Dem Vater war also zu Muthe, als sei sie ihm neu geschenkt … und sie, sie fühlte mit innerer Beschämung und Reue, daß sie doch lieber gestorben wäre. Der Tag schleppte sich hin … die Arbeit wurde ihr noch schwer; die Nachbarn kamen und verwunderten sich, doch merkte man wohl, daß sie der Kraft ihres Gebets die Genesung zuschrieben.

Gegen Abend, als die beiden im Stillen wieder noch inniger verbundenen Menschen an ihren gewohnten Plätzen saßen, der Vater am Webstuhl, Hilde in der Nähe des anderen Fensters ihm gegenüber, da fühlte das Mädchen ihren Blick in die Höhe gezogen. Ein Vorübergehender hatte draußen gezögert; jetzt verschwand er, aber Hilde hatte die Gestalt erkannt. Ihr Herz stockte. Als aber gleich darauf an die Hausthür gepocht wurde, trat sie zu dem Alten an den Webstuhl, hielt mit einer sanften Bewegung seinen Arm zurück und sagte ruhig: „Vater, der Sohn des Bürgermeisters ist draußen; da klopft er, hört Ihr? ich bitte Euch, gönnt mir eine Zwiesprache mit ihm … laßt uns allein.“

Meister Lukas sah seine Tochter betroffen an, aber er erhob sich. „Du bist meine gute Tochter, Du weißt, was Du thust …“ sagte er zögernd.

„Ja, Vater … er kommt zum letzten Male …“

Der Weber schüttelte bekümmert den Kopf. „Ich glaube, Hilde, uns beiden wäre besser, wenn er nie gekommen wäre –“ sagte er. „Bist Du auch auf dem richtigen Wege? hast Du um einen Fingerzeig von oben gebeten?“

Hilde wurde unruhig. „Lieber Vater, wenn Ihr mich nur jetzt nicht fragen wolltet!“ sagte sie flehentlich. „Die Sache liegt zwischen mir und ihm. Laßt mich sie zu Ende bringen.“

Meister Lukas machte keinen Einwand mehr … er wußte sich in ungewöhnliche äußere wie innere Vorgänge zu finden. Ohne weiteres Zögern stieg er die Treppe zu einer oberen Kammer des Hauses hinauf. Hilde wartete, bis sein Schritt verhallt war, dann zog sie den Riegel an der schon für den Abend geschlossenen Thür zurück.

Draußen stand Georg. Seine Augen drangen vorwärts in den dunkelnden Flur und leuchteten hell auf, als sie auf das seitwärts stehende Mädchen trafen. Sein ganzes Wesen athmete verhaltene Leidenschaft und mit einem Laut, der halb ein Stöhnen, halb ein Jauchzen war, wollte er auf sie zu stürzen, als er sich, seinem Auge kaum trauend, gleich darauf im Wohngemach mit der Geliebten ganz allein fand.

Aber Hilde hob sanft die Hand auf. Georg, der sie nicht verstand, ließ noch einmal die heißen Augen durch die schon dämmernde große Stube schweifen, in der er, nach der abwehrenden Geberde Hildens, den alten Weber noch irgendwo vermuthete. „Nein, Georg, wir sind allein und werden ungestört bleiben,“ sagte darauf Hilde mit der tieftraurigen Ruhe, die jetzt, in Georg’s Gegenwart und gerade beim Gewahrwerden seiner leidenschaftlichen Gluth, über sie gekommen war. „Wir sind allein – wollt Ihr mich anhören?“

„Alles will ich, alles, Liebchen,“ sagte Georg zärtlich, fast flüsternd. „Aber zuerst gönne mir einen Gruß – guter Gott, warum weichst Du zurück? die Sehnsucht nach Dir hat mich fast von Sinnen gebracht … und Du bist krank gewesen! ...“

„Ja, Georg, auch davon will ich Euch erzählen.“

Georg, von einer Ahnung von Unheil erfaßt, suchte in den lieben Zügen zu lesen und das seltsame, schattenhafte Lächeln zu enträthseln, mit dem sie gesprochen hatte. Er setzte sich auf ihren Wink … war es denn möglich, er setzte sich und hatte die liebe Gestalt noch nicht berührt, nach der ihn eine hungrige Sehnsucht Tag und Nacht fast verzehrt hatte! Aber Hilde hatte eine eigne Macht über ihn; schon ihre bloße Nähe beglückte ihn, schon die Luft, in der sie athmete, linderte und löste das brennende schmerzliche Verlangen.

Er hing an ihren Lippen, während sie, die einige Schritte weit entfernt vor ihm saß, nach Worten zu suchen schien. „Ich habe Euch zu sagen, was ein Mädchen beschämen muß,“ hob Hilde endlich mit gesenktem Blick und leiser Stimme an. „Seht, ich bin stille vor mich hin in unsern Bräuchen aufgewachsen … deren, die sonst in der Welt gelten, war ich ganz unkundig. Daher hattet Ihr es leicht, mich zu täuschen …“ jetzt hob sie die Augen, während er die seinen zum ersten Male in flüchtiger Verwirrung abwendete. „Eures Gleichen lacht wohl im Herzen über eine solche thörichte Dirne aber noch niemals war mir Aehnliches mit einem Manne begegnet … mich hatte noch keiner angerührt, Georg … und als Ihr neulich von mir ginget, da glaubte die Thörin, sie sei Euere Braut …“

Georg war aufgesprungen, glühend roth. Er brach in ein kurzes, halb verlegenes halb ärgerliches Lachen aus, dann aber war er dicht neben ihr und wollte sie umfassen. Sie aber entzog sich ihm, mit einem heiligen Ernste, ja mit einer Art Entsetzen in den großen Augen … „Und als der Vater nach Hause kam am nämlichen Abend noch, an dem ich so glücklich gewesen war, da erfuhr ich, Ihr seiet einer Andern versprochen. Ich meinte daran zu sterben, Georg –“ Georg stöhnte und hatte die Hand über die Augen gelegt – „denn bei uns ist es nicht Sitte, daß man eine Andere zum Liebchen begehrt, als diejenige, welche die Ehefrau werden soll. Das wollte ich Euch sagen …“

Sie stockte. Jetzt fuhr Georg mit einem plötzlichen Entsetzen auf. „Und nun verstößest Du mich, Hilde?“

Das Mädchen sah ihn an, ohne ihn zu verstehen. „Ich Euch? ich Euch …“

„Ja, Hilde, Du mich. Denn ich liebe Dich, Dich, Mädchen, hörst Du?“ –

Hilde sah ihn an, blickte lange in das schöne, aber von innerer Qual entstellte junge Gesicht, und nun glitt es wie ein Erbarmen über ihre Züge, und ein weiches, sehnsüchtiges Licht ging in den stillen Augen auf. Georg breitete zärtlich die Arme aus, aber wieder wich sie zurück, und er griff in die leere Luft, wie Einer, der einen Schatten zu umfassen strebt. Da fuhr er wild in die Höhe. „So sollt’ ich Dich nie mehr berühren, nicht ein einziges Mal mehr küssen dürfen? Aber ich will, Mädchen … und ich muß! sieh zu, ob Du mir es wehren kannst!“

„Ihr wollt – Ihr müßt?!“ Jetzt gellte auch Hildens Stimme laut durch das Gemach und zugleich ging von oben ein Geräusch durch das Haus. Georg achtete nicht darauf, seine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_251.jpg&oldid=- (Version vom 23.9.2020)