Seite:Die Gartenlaube (1885) 295.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Nur dadurch, daß wir immer und immer wieder statt der Stile den Stil in Betracht ziehen, daß wir statt eines blöden Nachäffens aller Schnirkel und Schnörkel lehren und fördern ein vernünftiges Prüfen, ob das, was für andere Verhältnisse gut war, für unsere Verhältnisse gut ist; daß wir vor Allem unsern Kunstgewerbetreibenden und uns, dem kaufenden Publikum, als erste und Hauptsache beim Schaffen oder Betrachten eines Gegenstandes die Frage angewöhnen: woraus besteht er und was soll er, und spricht sich die Antwort darauf klar und wahr in seiner Erscheinung aus? Lassen wir uns nicht durch Kinkerlitzchen bestechen, die unserem Auge vielleicht im ersten Momente schmeicheln – auf die Dauer werden wir nur das gern in unserer Umgebung sehen, bei dem wir auf jene Frage ein entschiedenes Ja zur Erwiderung haben. Denn auch hinter die Lügen und Hohlheiten der Form, wie hinter die des Menschencharakters, kommen wir bei täglichem Verkehr, und so elegant sie uns etwas vorflunkern – wir hören schließlich „von Allem nur das Nein“.

So lange sich uns noch nicht aus den alten eine eigene neue Formsprache entwickelt hat, müssen wir freilich die guten Werke studiren, die eben in den alten Formsprachen geschrieben sind. Und welche derselben können wir am besten brauchen?

Die gothischen nicht, denn so Treffliches die Gothik auch im Kunstgewerbe geleistet, so allgemein trägt sie den Stempel eines Geistes, der nicht der unsere ist, in den wir uns kaum noch hineindenken, aus dem wir aber jedenfalls nicht das erlernen können, was wir brauchen: Befreiung für uns selbst. Das Rokoko? Nichts wäre schädlicher, als wenn unser Kunstgewerbe – wie es da und dort leider den Anschein hat – sich in der Vorahnung des altdeutschen Bankerotts zu ihm hinüberflüchten wollte. Einmal wäre mit dem Sieg des Rokoko auch der Sieg des französischen Kunstgewerbes über das deutsche besiegelt, denn dem Volksgeist unserer Nachbarn drüben ist der Geist des Rokoko noch ungleich verwandter als uns. Dann aber warnt ein schlagender Grund vor seiner Wiedereinführung zur Vorsicht: das Rokoko war kein Stil. Ihm fiel es nicht ein, jenen allgemeinen Stilgedanken auf seine Weise zum Ausdruck zu bringen, an dem doch alles liegt – es war nur eine Manier, denn es lehrte den Gegenstand nicht, dem Stile gemäße von seinem eigenen Wesen sprechen, es ließ ihn mit erborgtem Leben bespiegeln, was davorstand. Freilich war dies Spiegelbild oft ein geistreiches, prickelndes, anmuthiges, aber an der Rokokomanier lag das nicht, sondern an der bespiegelten Rokokogesellschaft: sie ist’s, deren Widerschein uns in jenen Erzeugnissen anspricht, nicht die Schönheit jener Erzeugnisse selbst. So wäre die Wiederbelebung der Zopfkunst auch vom künstlerischen Standpunkt besehen ein Unglück. Denn abgesehen davon, daß wir mit Sicherheit wieder statt eines Verstehens des Geistes ein Abschreiben der Formen, statt der altdeutschen Maskerade eine Rakoka-Maskerade zu gewärtigen hätten, würden wir von unserem Ziele noch weiter abgebracht werden, als wir es jetzt sind. Wie könnte uns das Rokoko, das ja eben gar keinen Stil hat, zum Verständniß des allgemeinen Stils aus dem besondern, zum allmählichen Ablösen des Begriffs von der Erscheinung verhelfen?

Es bleibt uns von den historischen Stilweisen, die überhaupt bei uns in Frage genommen sind, die Renaissance. Und in der That ist sie von allen die, welche uns am meisten nützen kann, denn ihre Formensprache bildete ein Geist, der dem unseren verwandt, der vielfach geradezu unseres Geistes ist. Lehnen wir uns also vorläufig an ihre Kunst und zwar da, wo uns Klima, Anschauungen oder Sitte nicht von ihr trennen, an ihre reinste und schönste Gestalt, an das italienische „Rinascimento“. Unsere Vorfahren haben es ja auch so gemacht und aus dem italienischen den ihnen entsprechenden deutschen Stil gebildet. Verachten wir ihn nicht zur Bildung des uns entsprechenden deutschen! Sind die altdeutschen Meister nicht da gerade am weitesten gekommen, wo sie den Geist der Renaissance von drüben am besten verstanden? Warum sollen wir also, wo es angeht, nicht aus der Quelle schöpfen?

Bei unserem Anlehnen dürfen wir nur nicht vergessen, daß die Stütze am Rücken doch immerhin nur eine Stütze sein darf, daß uns hauptsächlich und später einmal ganz die eigenen Beine tragen sollen, und daß besagte Beine eben auf dem Deutschland des 19. Jahrhunderts stehen. Weil Vieles in der Renaissance unseres Wesens ist, so ist lange noch nicht Alles darin unseres Wesens. Prüfen wir also Alles nach der allgemeinen Regel von Fall zu Fall. Beispiele des Unpassenden aufzuführen, hab’ ich beim Schreiben dieser Zeilen Gelegenheit genug gehabt. Manches, was uns auf den ersten Blick so erscheinen mag, wird uns indeß bei genauem Hinsehen beweisen, daß es nur deßhalb uns unpassend schien, weil es uns ungewohnt war. Die Butzenscheiben z. B. sind doch wohl ohne Grund so oft verspottet worden. Ihre Wiedereinführung in alle Fenster unseres „lichteren Jahrhunderts“ wäre gewiß unsinnig; unbestreitbar aber ist, daß sie unendlich reizvoller sind, als unser abscheuliches Milchglas und somit gut befähigt, in Fenstern nach Corridoren, dunkeln Höfen etc. das letztere zu ersetzen. Und sollten wir des poetischen Duftes entbehren, den das magische Licht der Glasgemälde über ein Plauder-, Schlaf- oder Musikzimmer gießen kann – blos weil die Glasmalerei so lange im Argen lag? Man ersetze nur die ewigen Landsknechte und altdeutschen Fräuleins auf ihren Gebilden durch ebenso farbige, aber schönere und sinnvollere Schöpfungen!

So kommen wir schließlich von allen Seiten her doch auf den einen großen Hauptschaden unserer modernen Halbbildung hinaus: es muß mehr aufs Denken hingearbeitet werden, statt aufs Auswendiglernen. Wir haben Kunstgewerbemuseen und Ausstellungen – wie viel mehr werden sie leisten, wenn der Besucher vom allgemeinen Geiste sich anzueignen vermag, statt nur nach „echten Mustern“ zu suchen. Wir haben eine riesenhaft angeschwollene Kunstgewerbelitteratur mit stets sich mehrenden Büchern und Bilderwerken. Aber wie wenige behalten, wie Semper’s bahnbrechende Werke, wie Falke’s „Kunst im Hause“ und seine meisterhafte „Aesthetik des Kunstgewerbes“, wie Bucher’s „Reallexikon der Kunstgewerbe“ und seine streng wissenschaftliche „Geschichte der technischen Künste“, das Allgemeine über dem Einzelnen im Sinn! Die meisten lassen den Wald vor den Bäumen, den Stil vor den Einzelnheiten der Stilweisen aus dem Auge, und wenn ihre Wichtigkeit für den Gelehrten nicht geleugnet werden darf, so ist doch ihr Einfluß auf den mit wenig eigener Kritik arbeitenden Handwerker sehr oft vom Uebel. Deßhalb darf ein Aufsatz, der praktisch anregen will, den empfehlenden Hinweis auf Bücher, wie die genannten, nicht versäumen.

Freilich, alles Verstehen und Denken kann besten Falls dazu führen, ein sinn-, also stilzeigendes Gefäß zu schaffen – das Höchste der Kunst, echte Schönheit heraufzubeschwören, reicht es zunächst nicht aus. Einmal aber: wenn ein stilvolles Geräth noch nicht schön sein muß, so kann ein stilloses Geräth nicht schön sein, denn schönen Unsinn giebt es nicht. Und zweitens kann das Denken, auf das wir ja durch das Zerreißen aller Entwickelung angewiesen sind, doch wenigstens indirekt auch zur Neuschöpfung auf künstlerischem Gebiet von Nutzen sein. Es kann vom Auge mit allem, was klaren Forderungen der Kunst widerspricht, den Unsinn fernhalten und so dafür sorgen, daß das gesunde Menschengefühl fürs Schöne sich üben und ausleben kann, statt immer wieder von dem umgebenden Blödsinn abgezogen und verkränkelt zu werden.

Dazu gehörte freilich. daß unser Volksauge nicht blos an bevorzugten Stellen Sinnvolles fände, sondern überall. Bis jetzt aber wird der Stil, oder was man so nennt, nur auf der Table d’hôte für Reiche servirt – Hausmannskost ist das wenigste unter den Produkten unserer Kunstgewerbe. Und doch könnte der Hausrath des ärmeren Mannes ebenso gut durchgeistigter und sinniger sein, wie der des reichern, und ohne daß er darum einen Pfennig mehr kosten müßte als jetzt. Wir machen zu viel Prunk- und Protzgeräth, und wenn wir Billigeres machen, soll’s eben doch auch „nach etwas aussehen“, und so wird der Flitter über den Trödel gehängt. Es sieht dann freilich nach etwas aus – nach Verlogenheit und kunstreiterhaftem Geprahl nämlich, nach anderem aber nicht.

Dränge die Kunstgewerbeströmung tiefer in unsern Boden, so würde er durch sie – ich sprach schon vorhin davon – befruchtet zur Aufnahme einer wahrhaft nationalen, weil im Volke wurzelnden hohen Kunst. Käme es dazu, so dürften wir getrost der Früchte warten, die aus dem Samen aufgehen, den unser Kunstgewerbe ausgestreut. Es läge in gutem Grunde, von gutem Safte genährt und könnte vielleicht zu dem heranreifen, was wir alle ersehnen: zur künstlerischen Verklärung unserer Zeit und unseres Volkes – nicht zum altdeutschen, aber zum neudeutschen Stil!




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_295.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2020)