Seite:Die Gartenlaube (1885) 298.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

für seine Vaterstadt an: die Zeit, als unter König Max II. zu dem Wirken der bildenden Künste auch litterarische Thätigkeit trat, indem Geibel, Bodenstedt, Dingelstedt und Heyse die Geister in Bewegung brachten. An den reichsten Eindrücken fehlte es also nicht.

Der Knabe Stieler genoß, nachdem er den Vater frühzeitig verloren hatte, unter der Leitung einer einsichtsvollen und feingebildeten Mutter eine vortreffliche Erziehung, welche den Geist zu schärfen verstand, ohne das Gemüth darunter Schaden leiden zu lassen. Aber während er auf dem Gymnasium und später an der Münchener Universität mit Eifer und Talent studirte, trat von anderer Seite her die Poesie an ihn und hauchte ihn mit ihrem Zauber an.

Stieler’s Vater besaß am Tegernsee ein Landhaus, in welchem alljährlich die Familie ihre Sommerfrische hielt. In diesem entzückenden Winkel der Berge, Angesichts der leuchtenden Felswände und des schimmernden Sees, an einer uralten Kulturstätte: hier fand Stieler einen unerschöpflichen Schatz von poetischen Eindrücken. Man muß nun freilich wissen, daß das Bergvölkchen in der Umgebung des Tegernsees das lebensmuthigste, liederreichste und verliebteste ist im ganzen deutschen Vaterlande. Nirgends – von den Vogesen bis zur Bernsteinküste – wird so viel gesungen und gejauchzt, so harmlos gelebt und so fröhlich gerauft, als in den Vorbergen zwischen Isar und Inn. Der Wohlstand des Volks, im Verein mit der theils großartigen, theils lachenden Natur des Alpenvorlands ließ hier einen Ueberschuß an poetischer Weltanschauung und kraftvoller Lebensbethätigung erwachsen. Ewige Berge, mit ihren Felspfeilern Sinnbilder unvergänglicher Treue; grüne Seefluth, bald sonnig schlafend, bald sturmgepeitscht; traumtiefe Waldnacht, vom Kuckucksruf durchschallt; stattliche Höfe, auf welchen seit tausend Jahren ein tüchtiges, fröhliches, wehrhaftes Bauernvolk haust; grüne Almen, von welchen glockenhelles Jauchzen in die Bergwelt hineinschallt: das war die Umgebung, in welcher Karl Stieler die langen Sommertage seiner Jugend verbrachte – kein Wunder, daß seine ganze dichterische Anlage diese Dinge spiegelt.

Als Knabe kümmerte er sich noch nicht um das Volk. Aber – und das ist schon sehr viel – er lernte, wenn er als „Stielerbub“ in der Tegernseeer Dorfgasse sich umhertrieb, die Sprache des Volks, die er später so meisterlich zu handhaben wußte.

Das Leben des Volkes, seine Leiden und Freuden, der engbegrenzte Kreis der bäuerlichen Anschauungen und Schicksale fingen erst an, Stieler’s Aufmerksamkeit zu erregen, als er Student geworden war. Und da war’s nicht etwa die Absicht, einen Gegenstand für schriftstellerische Thätigkeit zu finden, was ihn in diesen Gedankenkreis brachte, sondern das Leben selbst. Nicht um litterarischen Ruhm begann er die Dialektdichtung, sondern um einer spröden Almerin ein flüchtiges Lächeln abzugewinnen, hat Karl Stieler sein erstes Dialektliedchen ersonnen, noch als Gymnasiast. Die angesungene Landschöne ist vielleicht längst irgendwo eine hartfäustige Bäuerin geworden; aber jenes flüchtige Abenteuer gab den ersten Anlaß zu einer Reihe von Liedern, welche der Dichter in das Herz seines Volkes hineingesungen hat.

Daß er das Landvolk so gründlich verstehen lernte, war freilich nur möglich, weil er auch mit ihm lebte. Wenn er unter die lachenden Sennerinnen trat, die Abends um ihr Herdfeuer saßen, oder unter die Holzknechte, die im Hochwalde den gefällten Baumriesen umstanden auf ihre Aexte gestützt: dann war er Einer von ihnen, in ihrer Tracht, ihrer Ausdrucksweise, er fühlte wie diese Menschen fühlen und stand mitten in ihrem Gedankenkreis; was sie erleben, erlebte er mit ihnen, zum Theil an sich selber.

Er erhielt auch öfter Veranlassung, sich mit dem Volke zu beschäftigen. Denn als er die Neigung, Maler zu werden, überwunden und als Jurist die Münchener Universität absolvirt hatte, trat er in Gerichtspraxis am Landgerichte zu Tegernsee und lernte da die Bauern mit ihrer „Proceßsach’“, mit ihren Heiraths- und Erbschaftsangelegenheiten kennen; mit dem Uebermuthe, der sie nach dem Zaunpfahle greifen läßt, und mit jener kleinlauten Schlauheit, welche sie hernach vor dem Richter zur Schau tragen. Und als er während des Feldzugs von 1866 Lieutenant in einem bayerischen Infanterieregimente war und mit demselben in Passau lag, lernte er seine Landsleute auch kennen„ wie sie als Rekruten sind, keck und lebendig noch unter dem Hochdrucke der Disciplin, schneidig und gemüthvoll zugleich. Später dann, in politisch erregter Zeit, mußte er auch als Volksredner und Parteigänger der reichsfreundlichen Partei zu den Tegernseeer Bauern reden. Von zündender Wirkung war sein Auftreten, in der politischen Gesinnung jenes kleinen Wahlbezirks heute noch fühlbar.

So kam der Dichter in mannigfachste Berührung mit seinem Volke. Daß seine poetisch veranlagte Natur gerade den so gewonnenen Schatz an Volkskenntniß ausbaute und verwerthete, war wohl natürlich. Er war aber auch frühzeitig zu der Ueberzeugung gekommen, daß für das Denken und Fühlen des Volkes auch die Sprache des Volkes am besten paßt und daß auch nichts in dieser Sprache gegeben werden soll, was nicht ganz in ihr heimisch ist. Es ist ein beschränktes Gebiet, welches der oberbayerischen Mundart zur Verfügung steht.

„Das bäuerliche Thun“ – so lauten des Dichters eigene Worte hierüber – „mit seinen Freuden und Leiden, die Wagstücke der Jagd, die Schelmenstücke der Verliebten, farbenreiche Feste und mitunter wohl der Konflikt der Untergebenen mit ihren Honoratioren, das sind so die nächstliegenden und wohl auch die einzigen Motive; allein sie werden erweitert zu tausendfarbigen Nüancen durch die Auffassung, welche Phantasie und Witz des Volkes an diese spärlichen Begebenheiten knüpft.“

Innere Echtheit verlangte Stieler vor Allem von der Dialektdichtung, und dieser Anforderung ist er selbst immer treu geblieben. Seine Gestalten sind durchaus echt, dabei tief empfunden oder mit witziger Schneide, und nicht nur poetisch, sondern auch kulturgeschichtlich werthvoll. Jene Echtheit aber ist vom deutschen Volke sofort herausgefunden worden. Gemüther, welche der Poesie unzugänglich bleiben, mußten wenigstens von dem Humor, von dem derbdrolligen Naturwitze der Stieler’schen Bauern gepackt werden. So kommt es, daß Stieler’s Dichtungen eine ungemein große Anzahl von Anhängern und Freunden gefunden haben. Und daß diese Anhängerschaft besonders zahlreich ist in der Nähe der Heimath ihrer Muse, ist auch natürlich. Wer an schönen Sommertagen auf der Bahn oder zu Wagen den Bergen entgegenfährt, kann oft genug Stieler’sche Worte citirt hören, und zwar von Menschen, bei denen man sie kaum gesucht hätte. Neben dem kulturgeschichtlichen und poetischen Werthgehalte dieser Dichtungen mag wohl noch ein drittes Moment zu ihrer Verbreitung beigetragen haben: jene Wanderlust, welche allsommerlich Tausende den Bergen zutreibt. Das Volk dieser Berge zu verstehen, eine Erinnerung von ihm mit heimzunehmen in die Ferne: das mag wohl auch für Viele ein Anlaß sein, sich diesen Schatz anzueignen. Denn Stieler’s Dialektgedichte sind der werthvollste Schlüssel für Den, der sich ein Verständniß des Volkslebens in den bayerischen Bergen verschaffen will.[1]

Stieler ist nicht bei der Dialektdichtung allein verblieben. Drei hochdeutsche Gedichtsammlungen zeugen von seiner Begabung auch auf diesem Felde. In seiner hochdeutschen Lyrik finden wir wieder das tiefe Empfinden, die knappe schlagende Form, wenn auch die vorgeführten Menschen und Ereignisse andere sind. Diese Lyrik ist stolz und feinfühlend, was der Dichter empfindet, sagt er nicht in eigener Person dem Leser, sondern legt es längstverschwundenen Menschen in den Mund, minnefrohen Gestalten der Vorzeit, die umweht sind von den goldenen Schleiern der Sage und umrauscht vom waldfrischen Hauche des Hochlands. So schildert er uns die unzerstörbare Sehnsucht nach Glück und Lebensfreude, die unter klösterlichem Gewande ringt, so das Heimweh des Landsknechts, der auf dem Schlachtfeld verathmend noch einmal die Almenluft spürt, die ihn fernher grüßt. Durch das Gezweig einer tausendjährigen Linde läßt er ihre Geschichte rauschen; aus dem Waldmoos hebt er versunkene Bücher, durch deren zerfallende Blätter das Lied der Liebe machtvoll und ergreifend klingt. Die leidenschaftlichen Laute des Menschenherzens und der rauschende Athem der Natur sind hier immer zu inniger Harmonie zusammengestimmt.

So die hochdeutsche Lyrik Stieler’s.

Und nun entrollen wir das Lebensbild vollständig. Dazu geben uns Stieler’s prosaische Arbeiten den nächsten Anlaß. Diese prosaischen Arbeiten sind größtentheils Reiseschilderungen, wie wir sie in den weitverbreiteten Prachtwerken „Aus deutschen Bergen“ („Wanderungen im Bayerischen Gebirge und Salzkammergut“), „Italien“, „Bilder aus Elsaß-Lothringen“ und „Rheinfahrt“ finden. Solche Schilderungen, zu welchen der Dichter durch

  1. Wir geben in dieser Nummer (S. 294) eines der letzten oberbayerischen Gedichte K. Stieler’s, welches er zu dem gleichfalls beigegebenen Bilde von A. Eberle für die „Gartenlaube“ gedichtet.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_298.jpg&oldid=- (Version vom 1.2.2023)