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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Mein Gott, man muß ihn gekannt haben, den strengverschlossenen Mann, der sich mit einem einzigen zurückweisenden Blick unnahbar zu machen wußte, er sollte einem unmündigen Ding wie Dir ein solches Geheimniß mitgetheilt haben? Nein, meine liebe Grete, so alt war er noch lange nicht, um so kindisch geworden zu sein! Du maßest Dir da eine Mitwissenschaft an, über die ich lachen würde, wenn ich dabei nicht Deine Verblendung beklagen müßte. Wäre es denn wirklich so schön und beglückend, dieses Kukuksei im Lamprecht’schen Nest zu wissen? … Ich bitte Dich, stehe nicht gar so weise und überlegen vor mir – eine Haltung und Miene, die jeden Blutstropfen in mir zur Wallung bringt!“

Sie trat im heftigsten Unwillen um ein paar Schritte von dem jungen Mädchen weg, knüpfte mit unsicher tappenden Fingern die Haubenbänder fester unter dem Kinn und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn.

„Wenn Du Deiner Sache so gewiß bist und sie so energisch vertrittst,“ hob sie nach einem augenblicklichen Schweigen wieder an, „dann kann ich auch verlangen, daß Du mir Wort für Wort wiederholst, was Dein Vater gesagt haben soll.“

„Nein, Großmama, verzeihe, aber das kann ich nicht!“ entgegnete Margarete mit feuchten Augen. „Mir ist sein Vertrauen ein Heiligthum, das ich nie profaniren werde. Nur wo es gilt, für ihn zu handeln, da er es selbst nicht mehr kann, da werde ich rücksichtslos seinen letzten Willen zur Geltung zu bringen suchen. Gerade an seinem Todestag hat er den kleinen Bruder in alle ihm zukommenden Rechte einsetzen wollen –“

Sie hielt inne; die alte Dame hatte ein häßliches Hohngelächter aufgeschlagen. „‚Den kleinen Bruder!‘“ wiederholte sie zornbebend. „Du hast wirklich die Stirn, eine solche Ungeheuerlichkeit Deiner Großmutter gegenüber gelassen auszusprechen? … Aber den Wortlaut dessen, was Dir mitgetheilt worden sein soll, willst Du aus purer heiliger Scheu und Pietät nicht wiederholen? Ich will Dir sagen, weßhalb Du so rücksichtsvoll bist – weil Du nichts Positives weißt! Du hast läuten und nicht schlagen hören, hast hier und da ein vereinzeltes dunkles Wort Deines Vaters aufgefangen, und nun hältst Du diese Brocken neben die neue Wundergeschichte, und da es zu klappen scheint, fühlst Du Dich berufen, Dein Licht leuchten zu lassen! … Es ist ja auch gar schön, für die Verkannten und Verfolgten öffentlich in die Schranken zu treten! Und was kümmert es solch eine sensationsbedürftige Natur, wenn dabei ein seit Jahrhunderten respektirter Familienname in den Schmutz fällt?“

„‚Sensationsbedürftig‘?“ wiederholte das junge Mädchen mit finsterer Stirn, indem es stolz den Kopf zurückwarf. „Ich bin gewiß, daß dieser häßliche Zug unserer Zeit meine Seele auch nicht einmal gestreift hat; diese Beschuldigung darf ich mithin getrost zurückweisen … Und die Wiederverheirathung eines Mannes mit einem unbescholtenen Mädchen von feiner Bildung sollte seinem Familiennamen Unehre machen, das soll ich glauben?“ Sie schüttelte den Kopf. „Liebe Großmama, sei nicht böse; aber Du bist ja auch eine zweite Frau, und wie hochgeachtet stehen meine Großeltern da!“

„Unverschämt!“ brauste die alte Dame auf. „Wie kannst Du mich mit der ersten besten hergelaufenen Person vergleichen? Du – aber wofür ereifere ich mich denn!“ unterbrach sie sich, und reckte ihr zierliches Figürchen empor, um die verlorene würdevolle Haltung wieder herzustellen. „Die ganze Geschichte dreht sich ja doch nur um eine Beutelschneiderei, eine Erpressung von Seiten der Eltern; die verschollene Tochter kommt dabei kaum in Frage, wir thun ihr damit nur eine unverdiente Ehre an – wer weiß, wo sie sich herumtreibt!“

„Sie ist todt, Großmama! Schmähe sie nicht in der Erde!“ rief Margarete empört, „Du darfst es nicht, eben um unserer Familienehre willen; denn – Du magst Dich selbst täuschen wie Du willst – sie ist trotz alledem die zweite Frau meines Vaters gewesen!“

„Wirklich, Grete? – Nun, dann frage ich nur, wo sind denn die Dokumente, die es beweisen? … Gesetzt, es verhielte sich Alles genau so, wie die Leute im Packhause behaupten und Du es in Deiner unglaublichen Verblendung vertrittst – gesetzt, er sei in der That durch seinen jähen Tod verhindert worden, die geheime Ehe öffentlich anzuerkennen, dann, sage ich, müßte sich doch irgend ein darauf bezügliches Papier in seinem Nachlasse gefunden haben. Nichts von alledem! Nicht die kleinste eigenhändige Notiz, geschweige denn gerichtlich beglaubigte Atteste und Zeugnisse. Aber ich will noch weiter gehen. Ich will selbst annehmen, daß diese Dokumente in der That existirt haben“ – sie machte eine augenblickliche Pause – „so kämen wir dann nothwendig zu dem Schlusse, daß sie der Verstorbene selbst vernichtet hat, weil er nicht gewillt gewesen ist, die Sache an das Licht der Oeffentlichkeit zu bringen. … Und das, meine ich, sollte Dir genügen, die wahnsinnige Idee aufzugeben, in Folge deren Du Dich für die Vollstreckerin seines vermeintlichen letzten Willens hältst.“

Margarete war zurückgewichen, als sei sie auf eine Schlange getreten. „Das kann unmöglich Dein Ernst sein, Großmama! Was hat Dir mein Vater gethan, daß Du ihm einen solchen Schurkenstreich zutraust? … Ach, sein Zaudern, seine Furcht vor dem Urtheile der Welt, vor dem Standesvorurtheile, dem Moloch, der das Lebensglück Tausender verschlingt, wie hart strafen sie sich in diesem Augenblicke! Wie hat sich diese unselige Schwäche schon bei Lebzeiten gerächt durch die Qual inneren Zwiespaltes! … Und nun dieses Ende, dieser grauenvolle Abschluß, der ihm selbst kein Auslöschen seiner Verschuldung auf Erden gestattet hat! Aber ich weiß, was er gewollt hat – Gott sei Dank, daß ich das weiß, daß ich eine solche Verdächtigung, ein solches Brandmal von seinem Andenken abwehren –“

„Und damit einen Skandal an die große Glocke schlagen kann, gelt, Grete?“ ergänzte die Großmama hohnvoll. „O Du Verblendete! … Aber das ist dieser verrückte heutige Idealismus, der blind und taub gegen die Wände und Schranken rennt und nicht fragt, was dabei zusammenstürzt, wenn nur der falsche Wahn, die überspannte, schiefe und sentimentale Weltanschauung siegt! … Magst Du doch die Mittheilungen Deines Vaters verstanden haben wie Du willst, ich bleibe dabei, daß er selbst gewünscht hat, den Schleier über einer dunklen Stelle seines Lebens zu belassen. Und er hat es wünschen müssen, schon um unsertwillen – ich will sagen, der Familie Marschall wegen. Wir hätten es wahrlich nicht um ihn verdient, wenn durch seine Schuld auch ein Schatten auf unsern schönen, makellosen Namen fiele, wenn über uns gezischelt würde in der Stadt und bei Hofe, gerade jetzt, wo wir diesem erlauchten Kreise so nahe treten sollen! Ich sage, um jeden Preis muß es verhindert werden, daß von dem Erpressungsversuche des alten Lenz auch nur ein Laut in das Publikum dringt – die böse Welt glaubt gar zu gern das Schlimmste und munkelt weiter, auch wenn ihr sonnenklar bewiesen wird, daß sie sich irrt – und da hilft nur Eines: Geld! – Um ein paar tausend Thaler werdet Ihr freilich ärmer werden; aber mit dieser Abfindungssumme wird sich der alte Schwindler aus dem Staube machen und dahin zurückkehren, woher er unseliger Weise gekommen ist.“

„Und das Kind? Der Knabe, der dieselben Rechte hat wie Reinhold und ich, was soll aus ihm werden?“ rief Margarete mit flammenden Augen. „Soll er hinausziehen in die Welt, ohne das Erbe, das ihm von Gott und Rechtswegen zukommt, ohne den Namen, auf den er getauft worden ist? Und mir muthest Du zu, mit einer ungeheuren Lüge auf dem Gewissen durchs Leben zu gehen? Ich sollte je wieder einem ehrlichen Menschen ins Auge sehen können, wenn ich mir sagen müßte, daß ein großer Theil meines Erbes gestohlenes Gut sei, daß ich einen Menschen um sein kostbares Eigenthum, um den geachteten Namen seines Vaters betrogen habe? Und das forderst Du von mir, die Großmutter von der Enkelin?“

„Ueberspannte Närrin! Ich sage Dir, das würden alle Vernünftigen, Alle, die auf Ehre und Reputation ihres Hauses halten, von Dir fordern.“

„Herbert nicht!“ rief das junge Mädchen mit leidenschaftlichem Proteste.

„‚Herbert‘?“ rügte die Frau Amtsräthin scharf, mit hochmüthigem Befremden. „Trittst Du wieder in die Kinderschuhe zurück? ‚Der Onkel‘ willst Du sagen!“

Ein jäher Farbenwechsel fluthete über das Gesicht der Gemaßregelten. „Nun denn – der Onkel!“ verbesserte sie sich hastig. „Er wird nie zu jenen ‚gewissenlosen Vernünftigen‘ gehören, nie, niemals! Ich weiß es! Er soll entscheiden –“

„Gott bewahre! Du unterstehst Dich nicht, mit ihm darüber zu sprechen, bis –“

„Bis wann, Mama?“ fragte der Landrath plötzlich von seinem Zimmer her.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_306.jpg&oldid=- (Version vom 23.3.2024)