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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Hauses niedersehen und auf welche Du so stolz bist? … Du hast heute die Aufklärung aus allen Kräften erstrebt, um einen entehrenden Verdacht von dem Andenken Deines Vaters zu nehmen –“

„Gewiß! Aber ich habe auch zugleich für das Recht des kleinen Bruders gekämpft. Mir soll er tausendmal willkommen sein – ich werde ihn mit offenen Armen empfangen! Giebt er doch auch meinem Dasein einen neuen Werth. Ich werde für ihn denken und sorgen dürfen; ich will ihn bewachen, als ein Kleinod, das mir mein Vater anvertraut hat. Und eine solche Aufgabe ist wohl des Lebens werth!“

„Bist Du so arm an Hoffnungen für Dein eigenes junges Leben, Margarete?“

Ein finsterer Blick traf ihn.

„Dein Beileid brauche ich nicht – bemitleidenswerth arm ist man nur, wenn man sich mit seinem Schicksal nicht abzufinden weiß,“ versetzte sie schroff.

„Nun, da behüte Dich Gott, daß Dir nicht einmal dieses schöne, thönerne Piedestal unter den Füßen zusammenbricht!“ – Ein leises Lächeln stahl sich um seine Lippen; sie bemerkte es nicht, weil sie über die Schulter weg in den Hof hinaussah. – „Aber ich will Dich ja nicht kränken, Gott soll mich bewahren! Wir sind heute so hübsch in ‚gleichem Schritt und Tritt‘ gegangenen – wer weiß, was uns das ‚Morgen‘ bringt! Drum gieb mir eine Hand, eine Freundeshand!“

Er hielt ihr seine Rechte hin, und sie legte die ihre hinein, ohne Druck, ohne die geringste Bewegung auch nur der Fingerspitzen.

„Hu, wie kalt, wie beleidigend kalt! … Nun, ein alter Onkel muß auch eine Unfreundlichkeit hinnehmen können; dafür hat er ja die Last der Jahre und die Weisheit voraus,“ setzte er mit gutem Humor hinzu und entließ die Hand aus der seinen.

Er schob die Holzleiste an ihren alten Platz, verschloß den Schrank und nahm den Schlüssel an sich.

„Den Zimmerschlüssel werde ich mir in diesen Tagen noch einmal ausbitten,“ sagte er. „Ich bin gewiß, daß der Schreibtisch noch Manches enthält, was uns die Regulirung der ganzen Angelegenheit erleichtern wird … Und nun halte Dich hier nicht länger auf, Margarete! Ich habe es empfinden müssen, daß Du bis ins Herz hinein frierst.“

Gleich darauf hatte er das Zimmer verlassen. Margarete aber ging noch nicht. Sie stand in der Fensterecke und blickte über den Hof hin. Sie fror nicht; die Zimmerkälte kühlte ihr wohlthätig die pochenden Schläfen.

Drunten am Brunnen stand Bärbe und ließ Wasser in ihren blanken Eimer laufen. Die abergläubische Alte ahnte noch nicht, daß die Rolle ihrer „Frau mit den Karfunkelsteinen“ ausgespielt war für immer … Ja, nun war das Räthsel gelöst, das jahrelang verdunkelnd über dem Lamprechtshause geschwebt hatte!

Margarete sah hinüber nach den schneebeladenen Linden vor dem Weberhause. Dort hatte einst „die wilde Hummel“ gesessen und die sogenannte „Vision“ von der schneeweißen Stirn zwischen den buntseidenen Fenstergardinen gehabt. Und jetzt stand sie selbst hier oben und wußte, daß es die schöne Blanka gewesen war, die schleierverhüllt als weiße Frau gespukt hatte … Welch ein Zauber war von dieser Gestalt ausgegangen, von diesem rosenduftenden Mädchen, das selbst den gereiften älteren Mann, den stolzen Chef ihres Vaters zu ihren Füßen gezwungen! … Neben ihm hatte freilich der damalige hochaufgeschossene Primaner mit dem rothwangigen Jünglingsgesicht gar nicht in Frage kommen können. Jetzt allerdings war das anders, o, so ganz anders! Er war der Vielumworbene, dem sich selbst die stolze Schönheit, die herzogliche Nichte, zu eigen geben wollte – Margarete schrak zusammen, denn da kam er eben über den Hof her und schritt rasch nach dem Packhause.

Er winkte grüßend herauf. Bärbe’s Kopf fuhr herum; der Eimer entglitt ihren Händen, und das verschüttete Wasser strömte über die schützende Holzdecke des Brunnenbassins. Die alte Köchin stand, zur Salzsäule geworden, unter dem spukhaften Fenster, aus welchem das junge Menschenkind von Fleisch und Bein auf sie herniedersah.

Margarete trat zurück und zog die Vorhänge zusammen. Nun herrschte wieder jenes Dämmerlicht, das die Wände röthlich überhauchte und den spielenden Amoretten an der Zimmerdecke ein geheimnißvolles Leben verlieh. Diese bausbäckigen Lockenköpfchen da oben hatten zu verschiedenen Zeiten auf zwei schöne junge Frauen des Lamprechtshauses so schalkhaft herabgelugt, wie sie auch heute noch, unter Blumengewinden und Schleierwolken hervor, dem druntenstehenden, tiefbewegten Mädchen zublinzelten. Die dunkelhaarige Frau hatte ihren Liebestraum hier beschlossen, die mit den goldigen Mädchenzöpfen ihn aber begonnen. Beide hatten früh sterben müssen. Ein Jahr, ein kurzes Jahr des Glückes war ihnen vergönnt gewesen; aber wog diese Spanne Zeit nicht ein ganzes Leben voll Entsagung auf? – Das junge Mädchen ballte die Hände und biß die Zähne zusammen – waren sie schon wieder da, diese qualvollen Gedanken und Empfindungen, mit denen sie rang auf Tod und Leben? Sie hatte sich gerühmt, ihr bester Helfer sei der Kopf, und dieses Wort durfte nicht zu Schanden werden, sie mußte daran festhalten, und wenn sie dabei zu Grunde gehen sollte. Sie übernahm jetzt neue ernste Pflichten – genügte nicht auch treue Pflichterfüllung, um das Leben liebenswerth zu machen? Mußte es durchaus ein überschwengliches Glück sein?

Sie trat hinaus in den Gang und verschloß die Zimmerthür …

Und als bald darauf der Abend hereinbrach und es dunkel wurde in allen Gängen und Winkeln des Hauses, da hatten die Hausgeisterchen viel mit einander zu flüstern. Das alte Geschlecht der „Thüringer Fugger“ stand nicht mehr allein auf zwei Augen – ein prächtiger, kraftstrotzender kleiner Nachkomme trat neben den ärmlichen, dahinwelkenden Sproß, den der alte Stamm zuletzt getrieben, und die Kauf- und Handelsherren, die noch im Konterfei, in Reih und Glied an den Wänden des dunklem Ganges lehnten, konnten stolz sein; denn der kleine Bursche war wirklich und leibhaftig einer der Ihren, wie sie ja auch im Leben sammt und sonders schöne, intelligente Leute voll Kraft und Körperstärke gewesen waren.

Und im Packhause saß dieser hoffnungsvolle Erbe auf den alten Knieen seines Großvaters, neben dem Bett der genesenden Frau, und aus den Augen der alten Leute strahlte das Glück. Nun waren Kummer und Seelenpein überwunden; und ob auch draußen am niederen Dach die Eiszapfen blinkten und ein dickes Schneepolster gegen die Scheiben drückte, hier innen ging ein belebender Frühlingsodem durch die Räume. Im Kachelofen knisterte das Feuer, und der sanfte Lampenschein breitete sich über jedes liebe Stück der altgewohnten Einrichtung, und zum erstenmal wieder überkam das traute Heimgefühl die alten Leute, die ja bereits mit einem Fuß in der weiten Welt gestanden und nicht gewußt hatten, wohin sie mit dem ausgestoßenen Enkel ihre müden Schritte lenken sollten …

Im Vorderhause aber legten sich die Wogen, die der ereignißvolle Tag aufgestürmt hatte, nicht so bald. Die Frau Amtsräthin hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen und ließ Niemand vor. Ihre Leute schüttelten verwundert die Köpfe über das Gebahren der alten Dame, die „so voll Gift und Galle und bis in den Grund der Seele hinein geärgert“ herauf gekommen war. Sie hatte befohlen, daß das Abendbrot dem Herrn Landrath allein servirt werde, und nachdem sie Papchen einen widerwärtigen Schreier gescholten, war sie in ihr Schlafzimmer gegangen und hatte innen den Riegel vorgeschoben …

Und Bärbe hätte auch nie gedacht, daß sie das erleben werde, was ihr der heutige Tag gebracht hatte: die Erkenntniß, daß sie ein ganz nichtsnutziges Frauenzimmer und nicht werth sei, daß die Sonne sie bescheine … Sie war vor einer Stunde ganz entsetzt vom Brunnen gekommen und hatte Tante Sophie zugeraunt, daß sie Fräulein Gretchen leibhaftig und mutterseelenallein am Fenster der Spukstube gesehen habe. Aber da war endlich ein schweres Gericht über sie und ihren unseligen Aberglauben ergangen! Es hatte von Seiten der Tante Sophie eine „Kopfwäsche“ gegeben, an die sie denken mußte, so lange ihr ein Auge im Kopfe stand … O, über die dumme, blinde, alte Person, die Bärbe! Sie hatte ja das liebe Gretchen für die Frau mit den Karfunkelsteinen angesehen, hatte mit ihrem Geschrei das ganze Haus auf die Beine gebracht und den bösen Gestrengen aus der Schreibstube auf die Schwester gehetzt – ach, und da sollten böse, böse Reden gefallen sein … Nein, sie war wirklich nicht werth, daß der liebe Herrgott seine Sonne über sie scheinen ließ, und eher wollte sie sich die Zunge abbeißen, als daß ihr je wieder ein Wort über das Unwesen droben im Gange

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_311.jpg&oldid=- (Version vom 23.3.2024)