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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Zu morgen hat die Stadträthin eingeladen, meldet mir Sophie eben; man hat ja keinen Tag für sich; da kommst Du wohl mit? Es ist wegen des Stiftungsfestes; Ihr jungen Mädchen sollt etwas aufführen.

Bei Jenny war noch Licht,“ fuhr sie fort, ohne sich durch das Schweigen der Tochter beirren zu lassen. „Arthur ist mit Karl Röben zurückgekommen, der seine junge Frau abholen will; und eben kam Line mit Champagner aus dem Keller. Ich bitte Dich, erzähle nur Niemand von der Kirchenscene heute, ich habe auch die Oberpredigerin darum gebeten. Gute Nacht, mein Kind – der Thee war natürlich wieder nicht zu genießen bei der guten S.“

„Gute Nacht, Mama,“ erwiderte Trudchen. Sie nahm die Lampe und trat noch einmal vor des Vaters Bild, dann suchte sie ihr Lager auf. Aus halbem Schlummer erwachte sie jäh, sie hatte so deutlich die Stimme vernommen, die sie heute in der Kirche zum ersten Male gehört; mit raschem Herzschlag saß sie empor. Nein, es war kein Traum gewesen, was sie heute erlebt! Wie ein Sonnenblick fiel das freundliche Thun des Unbekannten in diese Welt voll Egoismus und Herzlosigkeit. Und nun blieb sie lange wachend.




Ueber das Gebirge zogen die Stürme des Spätherbstes, wehten Regenschauer aus grauen fliegenden Wolken und schlugen prasselnd auf die welken Blätter des Waldes und gegen die Fenster der Menschenwohnungen. Franz Linden saß am Schreibtische in dem Zimmer, das er sich im oberen Stock eingerichtet hatte, und seine Blicke flogen über die entlaubten Wipfel des Gartens zu den Bergen hinüber. So behaglich es bei einem Junggesellen nur sein kann, war es um ihn her; Bücher- und Gewehrschränke, prasselndes Feuer im Kachelofen, gute Bilder an den Wänden, der leichte Duft einer feinen Cigarre, und trotzdem war es ein gar nicht zufriedener Ausdruck, der auf seinem hübschen Gesichte lag.

Einen großen Bogen voller Zahlen schob jetzt seine Hand beiseite und ergriff dafür ein Briefblatt, auf dem er rasch zu schreiben begann:

 „Mein alter Amtsrichter!

Wie würdest Du hohnlachen, könntest Du mich sehen in meiner deprimirten Stimmung! Draußen regnet es und hier innen strömt die Fluth von tausend verdrießlichen Gedanken auf mich ein. Ich bin dahinter gekommen, daß Landwirth zu spielen wohl nur dann eine Freude ist, wenn man ein großes Portemonnaie sein eigen nennt. Die Ausgaben wachsen mir fast über den Kopf, Alles möchte erneut werden; na, das ist nun so, aber ich will Dir nichts vorklagen, ich habe anderseits unendliche Freude daran: ich kann Dir nicht beschreiben, wie wahrhaft poetisch so ein Pürschgang durch die herbstlichen Wälder ist, den ich fast täglich mit der alten Juno unternehme, dank der Erlaubniß des königlichen Oberförsters, mit dem ich mich angefreundet habe. Und wie wonnig es sich dann heimkehrt unter das schützende Dach!

Aber Du prosaischster aller Menschen denkst hierbei wahrscheinlich nur an Rehrücken oder gebratene Krammetsvögel, und die Stimmung à la wilder Jäger kennst Du nur vom Hörensagen.

Doch ich wollte Dir ja erzählen, wie Recht Du hattest, als Du in Bezug auf diesen Wolff ausriefst: ‚Hic niger est! Hüte Dich, Römer vor diesem – er ist ein Bösewicht!‘ Vielleicht ist das zu viel gesagt, aber jedenfalls ist er lästig. So schickte er mir gestern ein Koncertbillet und schrieb dabei: ‚Platz 38 bis 40 sei von Familie Baumhagen requirirt – ich empfing Nr. 37‘. Hinzugefügt hatte er, daß die Baumhagens die angesehensten und wohlhabendsten Patricier der Stadt seien – also offenbar diejenigen, welche die erste Violine dort spielen.

Du weißt, wie ich über sogenannte Geldsäcke denke; immer drei Meilen davon! Na kurz, ich ärgerte mich und schickte ihm das Billet zurück mit dem Bemerken, daß ich der unmusikalischste Patron der Welt sei. Er hat schon mehr derartige Attaken auf mich gemacht, vermuthlich ist da eine Tochter.

Um nun endlich zum Zweck meines Schreibens zu kommen – Du weißt, daß Wolff eine große Hypothek auf Niendorf hat, zu kolossal hohem Zinsfuß. Ich kann das einfach nicht zahlen und will die Hypothek kündigen; würde Deine Schwester zu mäßigen Procenten sie übernehmen? Jede Auskunft steht Dir zur Verfügung. Was soll ich Dir noch erzählen? Apropos! Die Tante – Du hast ihr schmählich unrecht gethan; ich sah nie ein harmloseres, in sich selbst zufriedeneres Gemüthe, wie diese alte Frau. Eine Nichte, die jährlich auf Besuch nach Niendorf kommt und von der sie hoch entzückt scheint, ihr zahmer Stieglitz und ihre Papierblumenfabrikation sind ihre Welt. Sie frug ganz ängstlich, ob ich ihr wohl die Stube belassen würde, bis sie todt? Was ich mit Wort und Handschlag gelobte. Sie hat mir mancherlei berichten müssen aus des Onkels letzten Lebensjahren; er war entschieden ein völliger Sonderling. Wolff sei jeden Tag bei ihm gewesen und habe mit ihm und dem Schulmeister Skat gespielt. Er ist, so zu sagen, am Spieltisch geendet. Die alte Dame erzählte mit einer wahren Grabesstimme, daß er mit Schellenunter und Eichelneune in der Hand gestorben sei; er habe gerade nach dem Null gesagt: ‚Rum! Der liegt! Ein Bombensolo!‘ Da war es vorbei. Ich glaube, sie graulte sich selbst bei diesem Bericht. Nachher will ich, trotz Regen und Sturm, nach der Stadt, um einige Besuche zu machen. Es muß ja doch einmal sein! Den Verwalter nehme ich mit; er holt ein neues Gespann Ackerpferde, die er vor einigen Tagen dort gekauft. Vielleicht sehe ich zufällig noch einmal meine unbekannte kleine Gevatterin, von der ich Dir neulich schrieb; bis jetzt war mir das Glück nicht günstig.“

Er fügte noch einige Grüße und seine Unterschrift hinzu und eine halbe Stunde später war er im tadellosen Visitenkostüm auf dem Wege nach der Stadt. Im Hôtel angekommen, erkundigte er sich nach einer Reihe von Adressen und begann nun seufzend jener wunderbaren Sitte nachzukommen, welche Dame Etiquette als unerläßlich für die „gute Gesellschaft“ vorschreibt, unbekannte Menschen Mittags zu überfallen und einige sehr banale Phrasen zu wechseln, um sich sobald als möglich wieder aus dem Staube zu machen. Gott sei Dank! Es war heute Niemand zu Hause, obgleich es in Strömen regnete. Zu Baumhagens wollte er aus angeborner Opposition zuletzt gehen; er gehörte zu den Menschen, denen nur Jemand etwas anzuloben braucht, um es von vornherein mit Mißtrauen zu betrachten.

Als er gerade im Begriff war diesen Besuch auszuführen, trat ihm auf dem Markt Herr Wolff entgegen. „Zu Baumhagens?“ fragte er, sichtlich angenehm berührt. „Dort – dort das Haus mit dem Erker. Wünsche tausendmal Glück, Herr Linden!“

Franz hatte eine unangenehme Abfertigung auf den Lippen, da war der Kleine schon verschwunden. Droben vom Erkerfenster aber trat rasch eine weibliche Gestalt zurück.

„Bedaure sehr,“ sagte die alte Dienerin, „Frau Baumhagen sind ausgegangen.“ Im unteren Stock dieselbe Antwort, obgleich ihm ein Chopin’scher Walzer entgegenklang.

Im Hôtel beim Mittagstisch erhielt er Aufklärung. Abends sollte ein Ball stattfinden, und ein solches Fest erforderte natürlich die umfassendsten Toilette-Vorbereitungen bei der Damenwelt; an solchem Tage sei weder Frau noch Fräulein zu sprechen. Auch war von nichts Anderem die Rede, als von diesem Feste, und einige der Herren luden ihn freundlich ein, theilzunehmen; es seien hübsche Mädchen dort.

„Bin neugierig, ob die kleine Baumhagen kommt,“ meinte ein Husarenofficier.

„Meinetwegen kann sie fortbleiben,“ entgegnete ein sehr blonder Referendar; „sie hat eine Art sich herabzulassen, die ich nicht vertrage. Ueberhaupt,“ er tippte mit dem Zeigefinger an seine Stirn, „etwas hochmuthstoll.“

„Ich weiß es von Arthur Fredrich, sie hat wieder einen Korb ausgetheilt,“ rief ein Anderer.

„Soll wahrscheinlich erst ein Prinz kommen,“ schnarrte ein Vierter.

„Thut nichts!“ beschwichtigte der Rittmeister von Brelow, „sagt, was Ihr wollt, sie ist eine prächtige Erscheinung, hat jedenfalls nicht eine Spur von Kleinstädterei; es ist Rasse in dem Mädchen.“

Franz Linden hatte mit Interesse zugehört, fast bekam er Lust, an dem Feste theilzunehmen; er sagte halb und halb zu, ließ sich einen Handschuhladen nennen und versaß so ein paar Stunden in ganz angeregtem Gespräche; nach den einsamen Wochen, die er durchlebt, interessirte es ihn mehr, als er sich eingestehen mochte. „Ich komme wahrhaftig noch auf kleinstädtischen Klatsch,“ sagte er, amüsirt über sich selbst. Als er auf die Straße trat, war der kurze Novembertag der Dunkelheit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_358.jpg&oldid=- (Version vom 25.12.2020)