Seite:Die Gartenlaube (1885) 410.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


Dieses Widersinnige seiner Stellung empfand auch Sternau, und wenn er es, wie die Dinge augenblicklich bei seinem Regiment lagen, weniger schmerzlich empfand, so gewährte ihm andererseits auch seine Kunst nicht mehr die frühere Befriedigung. Sein Personal war zusammengeschrumpft in jeder Beziehung, die besten Kräfte hatten sich anderwärts mit lebenslänglichen Kontrakten gebunden; die jugendliche Liebhaberin war für ihre Rolle nicht gewachsen, das Fach der Naiven ganz unbesetzt. Keiner empfand die Trostlosigkeit der Lage so tief wie Herr von Sternau.

Wie anders war es, wenn er den Blick nach jener Seite richtete, wo die leider verbotenen Früchte so verlockend über die Schranken des Paradieses herüber nickten, vor dessen Pforten die Engel der Thorheit und des Vorurtheils mit blitzenden Flammenschwertern Wache hielten! Was mußte mit solchen Kräften zu leisten sein! Der Mensch und der Künstler in ihm sehnten sich gleich stark dort hinüber.

Solches Sehnen war freilich der reine Hochverrath und Sternau hütete sich wohl, seine geheimen Gedanken im Kreise der Kameraden laut werden zu lassen; nein, da schürte auch er den Familienhaß um so eifriger, je mehr sich sein schwaches Herz zur Liebe geneigt fühlte. Denn es war nicht beim Gedanken geblieben, er hatte sich seiner Richtung folgend schüchtern erst und vorwurfsvoll, aber in immer engeren Kreisen bis dicht an jene Schranken herangeschlichen und zwar an einer Stelle, wo sie in Gestalt eines zierlichen Gitters den Garten des Ulanen-Kommandeurs, des Obersten von Helmkron, umschlossen. Dort stand an vorspringender Ecke ein Kiosk und in diesem ein Tisch und eine Bank, und auf der Bank saß, seit die Abende milder wurden, nicht selten eine allerliebste junge Dame, gewöhnlich mit einem Buch und einer Handarbeit, meistens aber über beide hinweg sehnenden Blickes nach Süden schauend.

Diese Augen, die so weltvergessen „das Land der Griechen mit der Seele suchten“, hatten’s ihm angethan. Nun darf zwar nicht verschwiegen werden, daß dieselben, als sie auf ihrer Reise ins Land der Ideale zuerst einem so realen Hinderniß, wie es ein Dragonerlieutenant immerhin ist, begegneten, sich sofort abwandten, ihre Besitzerin aber erröthend unter Mitnahme von Buch und Handarbeit den Platz verließ. Allein sie erschien doch am nächsten Tage wieder, und nach der dritten Begegnung hatte der Rückzug schon den Charakter der Panik verloren, nach der vierten erfolgte er mit Zurücklassung des Gepäcks, nämlich des Buchs und der Handarbeit. Unser Held machte von dem Recht des Siegers Gebrauch und es gelang ihm, indem er seinen Arm zwischen den Gitterstäben durchzwängte, von der Handarbeit zwar nur ein Flöckchen Seide zu erwischen, das er sofort an seinem Herzen barg, dagegen das Buch ganz ins Bereich seines Sehvermögens zu rücken.

Es war ein Band von Shakespeare, die aufgeschlagene Stelle der zweiten Scene des zweiten Aktes von „Romeo und Julia“, wo Julia am Fenster dem im Garten lauschenden Romeo ihre Liebe verräth.

„O Romeo! warum denn Romeo?
Verleugne Deinen Vater, Deinen Namen;
Willst Du das nicht, schwör’ Dich zu meinem Liebsten,
Und ich bin länger keine Capulet!“

War das Zufall oder Absicht? Unser Romeo hatte nicht viel Zeit darüber nachzudenken; ein Geräusch von Schritten veranlaßte ihn, das Buch eiligst an die alte Stelle zurück zu schieben und sich hochklopfenden Herzens einige Schritte vom Schauplatz seines Frevels zu entfernen. Hier ward er der unfreiwillige Zeuge folgenden Gesprächs, das sich zwischen dem Obersten von Helmkron und seiner Gattin entspann: „Aber, bester Schatz, zur Liebe kann ich sie nun doch einmal nicht zwingen, wenn ihr der Hagedorn nicht gefällt.“

„Was hast Du an ihm auszusetzen? Ist er nicht ein pflichttreuer Officier, in seinem Fach erfahren wie wenige? Hast Du mir nicht oft selbst seine große Gewandtheit in der Behandlung von Pferden gerühmt?“

„Gewiß, die bestreitet ihm Niemand, aber zwischen Pferden, Schatz, und –“

„Und Menschen ist ein Unterschied. Das wußte ich, ehe ich das Glück hatte, die Gattin eines Kavallerie-Obersten zu werden.“

„Nicht so heftig, Sophiechen, Du hast doch gewiß keinen Grund, Dich über Dein Schicksal zu beklagen.“

„Nicht? Ich entschließe mich, nicht ohne Bedenken darf ich sagen, ein lange treu bewahrtes Gelübde zu brechen, meine Freiheit, einen geachteten, ja berühmten Namen zu opfern, einen Wohlthätigkeitssinn, ein Beglückungsbednrfniß, das außerdem der ganzen leidenden Menschheit zugute gekommen wäre, auf den engen Raum einer kleinen Familie zu beschränken, und mein erster Schritt, hier Gutes zu wirken, stößt auf den Widerstand einer eigensinnigen Stieftochter, mit dem sich die Schwäche des Vaters verbündet.“

„Du thust mir Unrecht, liebe Sophie. Ich geb’s ja zu, Hagedorn ist ein tüchtiger Officier, ein ehrenwerther Charakter, obwohl mir sein hitziges Temperament, seine Rauflust schon manche Unannehmlichkeit bereitet haben.“

„Das sind Eigenschaften des Blutes, Fehler, wenn Du so willst, die sich in der Ehe am leichtesten verbessern. Er entstammt einem ritterlichen Geschlecht, meinem eigenen nahe verwandt. Aber nicht dies, sondern ganz allein die Sorge für Juliens Glück hat meinen Blick auf ihn gelenkt. Die Auswahl ist hier wahrhaftig nicht groß, Julie in den Jahren, wo man an Vermählung denkt. Giebt es eine passendere Partie für sie, als Herr von Hagedorn, ein hübscher Mann, ein vornehmer, begüterter Mann, der nächste am Rittmeister? Was hat sie gegen ihn einzuwenden?“

„Weiß ich das, Sophie? Aber laß ihr nur Zeit, sie ist ja noch jung, hat noch so wenig mit Männern verkehrt. Mag er selbst doch das Eis brechen, an Gelegenheit fehlt’s ihm ja nicht und meine Zustimmung ist ihm gewiß.“

„Es ist nicht Abneigung, was sie so spröde gegen ihn macht, sondern der pure Eigensinn, den sie stets allen meinen Wünschen entgegensetzt und der auf die Dauer meine mütterliche Autorität gefährdet. Eben deßhalb muß ich auf Deine energische Unterstützung rechnen.“

„Was in meiner Kraft steht, soll in der Sache geschehen, das versprech’ ich Dir. Horch, Sophiechen, da ruft uns der kleine Hans!“

Mit hörbarer Erleichterung sprach der tapfere Oberst diese Worte, zu denen ihm ein heftiges Kindergeschrei vom Haus her die willkommene Veranlassung bot.

„Möge sein Ruf Dich Deiner Pflicht gemahnen!“ erwiderte ihm die Gattin.

Das waren die letzten Worte, die der Lieutenant vernahm; die Stimmen verklangen, das Geräusch der Schritte entfernte sich rasch und so that auch Herr von Sternau. Aber je weiter er sich von dem gefährlichen Ort entfernte, um so langsamer wurde sein Gang, um so nachdenklicher seine Haltung. So, ganz Romeo, umwandelte er dreimal den lindenbepflanzten Stadtwall, wo ein nachdenklicher Lieutenant immerhin einiges Aufsehen erregte.

„He Romeo, wohin? Für welche Spröde schwärmst Du schon wieder? Komm mit und laß Dir die Grillen in lustiger Gesellschaft austreiben!“ riefen ihn einige des Weges kommende Kameraden an. Er entschuldigte sich mit Unwohlsein, aber sie glaubten’s ihm nicht, daß er den Abend zu Hause bleiben und Thee trinken werde.

Doch blieb er wirklich zu Hause, trank Thee, sehr starken Thee und besonders wohl war’s ihm auch nicht bei der Beschäftigung, der er sich hingab und die darin bestand, daß er die Rückseiten von Verlobüngs- und Beerdigungsanzeigen mit einem Chaos verworrener Schriftzeichen bekritzelte. Allmählich schälte sich jedoch aus diesem Chaos ein Gebild hervor, und als Fräulein von Helmkron am nächsten Tag wieder ihr Lieblingsplätzchen im Garten aufsuchte, fand sie dort ein artig zusammengefaltetes Papier und darauf die folgenden Verse:

 „An Julia!
Trennten Berge uns und Schluchten,
Nicht verzagt’ ich theures Kind;
Aber daß es die verfluchten
Kleinen Vorurtheile sind! –
Schied ein Meer uns von einander
Sturmbewegt und abgrundtief,
Ich durchschwämm’ es wie Leander,
Da ihn Hero’s Fackel rief!

Aber daß zu Deinen Füßen
Ich nicht stürze, wie mich’s drängt,
Daß mein Mund nicht an dem süßen
Wonnequell des Deinen hängt,
Daß, die düstre Nacht zu hellen,
Mir nicht strahlt Dein holder Blick,
Alpen nicht, noch Dardanellen
Dank ich solches Mißgeschick.

Maulwurfshügel, seichte Pfützen,
Wahn, zur Satzung aufgebläht,
Sind die Schranken, die Dich schützen,
Die ein freier Sinn verschmäht.
Julia, Julia, laß Dich sprechen,
Gieb ein Zeichen, wann und wo;
Sind die Schranken nicht zu brechen,
Bricht mein Herz!
 Dein Romeo.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_410.jpg&oldid=- (Version vom 26.3.2024)