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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Zimmer, als könne er dort besser nachdenken. Nach einem Weilchen kam die junge Frau zurück, das Schlüsselkörbchen am Arm. Das liebe Gesicht wandte sich zu ihm empor.

„Franz,“ sagte sie, „was wollte doch heute der Agent von Dir?“

Er sah sie starr an, als sei ein Blitz vor ihm niedergefahren. „Richtig, richtig!“ Und er schlug sich vor die Stirn, als falle ihm plötzlich ein, wonach er vergeblich gesucht.

„Was er wollte? O, nichts, Trudchen, gar nichts von Belang.“

Sie blickte ihn erstaunt an, aber sie schwieg. Es war nicht ihre Art, zum zweiten Male zu fragen, wenn sie keine Antwort bekam. Es mochte ja auch wirklich nichts von Belang sein.


In der Nacht hatte es stark gewittert, aber die Natur schien heute keine Lust zu haben, ihr kokettestes Kunststückchen auszuführen; sie lachte nicht wie sonst doppelt fröhlich in Himmelsbläue und Sonnengold auf Wald und Fluren; verdrießlich spannte sich ein graues Zelt über die Landschaft, so gleichförmig vertheilt, daß die Sonne auch nicht ein Ritzchen fand, nur einen freundlichen Gruß hinunter zu schicken, und es regnete; so ein richtiger Landregen war es, unverdrossen, ohne Aufhören.

Franz kehrte vom Felde heim, er freute sich über das Wetter; und Trudchen winkte aus dem Fenster, wie jeden Morgen.

„Alle Blüthen sind verregnet, Franz,“ rief sie ihm hinunter; „wie schade –!“

Er kam besonders gut gelaunt herauf. „Der Regen ist nicht mit Geld zu bezahlen, Liebling,“ sagte er; „nun bin ich nämlich schon so weit wie ein richtiger Oekonom, meine Stimmung hängt vom Wetter ab.“

„Meine auch!“ bemerkte die junge Frau, „so ein grauer Tag macht mich melancholisch.“

Er trat zu ihr, die an ihrem Schreibtisch saß und in Papieren und Büchern kramte. „Sieh einmal, Franz,“ und sie hielt ihm ein Päckchen entgegen, zierlich mit blauem Band gebunden, „das sind lauter Verse von Dir, der Reihe nach geordnet; wenn wir einst silberne Hochzeit feiern, lasse ich sie drucken und einbinden. Diese, auf dem crêmefarbigen Papiere, sind aus der Brautzeit, und diese verschiedenen Fetzen, weiß und blau und grau, die sind von jetzt, wo Du jedes Papier nimmst, das Dir in die Hände kommt, weil Du vermuthlich denkst, für die Frau Trude ist es gut genug.“

Sie sah ihn lachend an; er hatte sich tief zu ihr gebeugt.

„Und jetzt kaufe ich mir noch ganz besonderes Papier zu den nächsten Gedichten, Trudchen.“

„Warum?“

„Kunterbunt, wie die Klapperstörche Tüten unter den Flügeln haben. Und darauf schreibe ich.“

Sie war purpurn erglüht, „ein Wiegenlied –“ sagte sie leise ergänzend.

Er nickte und zog ihre Hand an den Mund. Sie aber schlang beide Arme um seinen Hals. „Dann wäre es erst traut, erst heimlich, Franz. Dann hätten wir uns noch lieber – wenn’s möglich ist.“

„Hier, kleine Frau, das habe ich Dir heute im Felde, im Regen, aufgeschrieben!“ Er zog sein Notizbuch aus der Tasche und legte es in ihre Hände. „Ich will einmal nachschauen, wo sich der Amtsrichter umhertreibt, der Sakramenter!“ rief er von der Thür noch zurück. Und sie saß schon und las, und ihr Antlitz war so ernst, als lese sie in der Bibel.

Sie schreckte empor von dem Knall einer Peitsche vor den Fenstern, eilig blickte sie hinaus – dort unten hielt der Baumhagen’sche Wagen; der Kutscher im weißen Gummirock und ebensolchen Hutüberzug, die Eisenschimmel anzuschauen wie ein Paar Rappen, so naßgeregnet. Sie öffnete das Fenster, zu sehen, ob Jemand aussteige, es rührte sich nichts; dann kam Johanne, der Kutscher reichte ihr einen Brief und sie lief eilig ins Haus zurück.

Die junge Frau durchzuckte es wie ein Schrecken; ein Unglück zu Hause? Sie flog zur Thür. „Ein Brief, gnädige Frau!“ Hastig riß sie das Kouvert auf:

 „Komme sofort; muß Dich nothwendig sprechen.
 Deine Mutter.“

Das war der orakelhafte kurze Inhalt des Billets.

„Bringen Sie mir die Sachen, Johanne, und benachrichtigen Sie meinen Mann.“

„Franz,“ rief sie ihm entgegen, als er rasch eintrat, „irgend etwas ist passirt!“

„Aengstige Dich doch nicht,“ bat er, ohne seine Unruhe ganz verbergen zu können.

„Ja ja! Gott, wenn ich nur erst wüßte, was! Mir ist so schwer ums Herz.“

Er nahm dem Mädchen die Sachen ab und legte den Mantel um Trudchens Schultern.

„Wenn es nur kein Krach ist mit Arthur und Jenny! Sie waren wunderlich mit einander gestern.“

Trudchen sah ihn kopfschüttelnd an. „Nein, nein, sie sind nie anders zusammen gewesen.“

„Dann wundert’s mich, daß er nicht schon längst davon gelaufen ist,“ sagte er trocken.

„Oder sie,“ gab Trudchen zurück und band die Hutschleife.

„Ich ertrüge solch ewige Katzbalgerei nicht, Trudchen;“ er knüpfte ihr dabei den linken Handschuh zu.

„Ich auch nicht, Franz. Leb wohl! Ihr müßt mich beim Essen entschuldigen. Gott gebe, daß es nichts Schlimmes ist.“

Sie sah sich noch einmal im Zimmer um, ging dann rasch an den Nähtisch und schob das Notizbuch in die Tasche.

Als der Landauer ein paar Momente später das Gitterthor passirte, bog sich ihr Köpfchen noch einmal aus dem Wagenfenster. Er stand auf der Treppe und sah ihr nach; nun nahm er den Hut ab und schwenkte ihn. Wie hübsch er war, wie stattlich und wie gut!

Sie lehnte sich in die Polster zurück. Es war ihr bange – das erste Mal, daß sie ohne ihn das Haus verließ. Es kamen ihr so wunderliche Gedanken, wie schrecklich es wäre, wenn sie ihn nicht gefunden, oder gar – wenn sie ihn verlieren müßte! Ob sie wohl noch leben könnte, dann?

Leben – ja; aber wie!

Furchtbar, Wittwe zu sein! Noch furchtbarer, sich zu trennen, der Eine hier – der Andere dort, grollend oder gleichgültig!

Ob Jenny und Arthur wirklich –? Herr Gott im Himmel, bewahre uns vor solchem Leid!

Sie sah aus dem Fenster; der Kutscher fuhr in schwindelndem Tempo. Dort vor ihr im Dunst lag die Stadt. Wieder wanderten ihre Gedanken; schneller noch als die Fahrt. Sie zog das Notizbuch aus der Tasche, sie wollte lesen, aber die Buchstaben verrannen vor ihren Augen; sie schob es wieder an seinen Platz.

Auf dem Boden zu Hause stand noch die alte Wiege, in der einst Papa gelegen, und Jenny und sie. Die Großmutter aus der engen Gasse hatte sie zur Aussteuer bekommen. Die wollte sie dereinst sich holen, wenn Gott ihr jenen Wunsch erfüllen würde. Jenny’s Liebling hatte in einem anderen Bettchen gelegen, die alte plumpe Wiege paßte nicht in das elegante Schlafzimmer der jungen Mutter; aber in die schlichte Stube zu Niendorf, wo der Wein sich ums Fenster rankte und der alte große Kachelofen so breit und gemüthlich stand, da war sie an ihrem Platz, just zwischen Ofen und Wandschrank, so recht traut und heimlich. Sie lächelte glücklich wie ein Kind; daß ihr Leben so schön, so reich werden solle, sie konnte es gar nicht glauben.

Der Wagen rasselte jetzt durch das Stadtthor, sie war gleich daheim, und ihr Herz begann stürmisch zu klopfen. Wenn sie doch erst wüßte!

Der Hausmann öffnete ihr den Schlag und sie stieg die Treppe empor, vorüber an Jenny’s Wohnung; die Entréethür zur mütterlichen Etage stand geöffnet. Niemand zu sehen, und sie trat in den Flur. Wie grüßte sie Alles so lieb und vertraut, selbst die Standuhr erhob ihre Stimme, eben schlug sie dreiviertel auf Zwei. Sie legte den Mantel ab und ging zu dem Zimmer der Mutter hinüber. Auch hier die Thür nur angelehnt. Im Begriff einzutreten, zog sie plötzlich die Hand zurück.

„Und ich sage Dir, Ottilie, daß es der unüberlegteste Streich Deines Lebens ist, wenn Du dem Kinde das Alles so unvorbereitet ins Gesicht wirfst. Mag es wahr sein oder nicht, wozu willst Du ihr junges Glück zerstören? Da giebt es doch andere Mittel und Wege!“

Es war Onkel Heinrich; er sprach im Tone tiefster Entrüstung.

„Sie soll es von Fremden erfahren?“ scholl die Stimme der weinenden Mutter; „die ganze Stadt erzählt es sich, und sie soll wie eine Blinde umhergehen?“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_439.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2024)